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Zwei Halbe vor der Pause

Suchtreport der Universität Bielefeld über Kinder und Jugendliche: Alkohol und Zigaretten sind zu Alltagsdrogen geworden  ■ Aus Berlin Annette Rogalla

Morgens um elf ist Dennis schon leicht angetrunken. Zwei Halbe hat sich der Dreizehnjährige genehmigt, bevor er hinunter zu seinen Freunden in den Jugendklub „Linksabbieger“ geht. Seine Schule hat er zuletzt vor einem halben Jahr von innen gesehen. Das Leben dort findet er grauenhaft, „ist immer Streß da.“ Dennis entspannt lieber im Klub bei permanent brennender Zigarette und ein paar weiteren Bieren, bevor er sich gegen halb zwei aus dem abgeschabten Sessel hievt und sich schwankend auf den Heimweg macht. Mittagszeit. Die beiden kleinen Schwestern kommen aus der Schule. Aufgewärmte Ravioli mit trockenen Weißbrotschnitten setzt Dennis ihnen vor – wie so oft, seitdem er sie versorgt. Die Eltern können nicht mehr. Sie legen sich nach dem Aufstehen direkt aufs Sofa, die Schnapsflasche immer in Reichweite. Vor drei Jahren wurden sie arbeitslos, entlassen aus dem Tagebau in der Lausitz. Seitdem hängen sie an der Flasche. Wenn sie genügend intus haben, wenn der Punkt erreicht ist, daß sie ihre eigenen Kinder nicht mehr durch den Alkoholnebel erkennen können, schlagen sie zu. Meist ist das nachmittags gegen vier der Fall, aber da hat sich Dennis bereits aus dem Staub gemacht und fläzt im Klub die Sessel breit. So sind sie geworden, die Alten. Dennis ekelt sich vor ihnen.

Dennis aus Hoyerswerda könnte der Musterjugendliche aus der neusten Studie über „Suchtgefährdung von Kindern und Jugendlichen“ sein, die Klaus Hurrelmann, Professor für Erziehungswissenschaft an der Uni Bielefeld, vorgelegt hat. Seit sieben Jahren ergründet er Drogenkonsum und andere „selbstzerstörerische Verhaltensweisen“ bei Kindern und Jugendlichen. Wichtigstes Ergebnis des diesjährigen Reports: die User werden immer jünger. Bereits sechs Prozent aller 13jährigen rauchen und trinken regelmäßig. Bei den 16- bis 17jährigen ist es sogar jeder dritte. Zur Flasche greifen 40 Prozent der Jungen regelmäßig, bei den Mädchen sind es 28 Prozent. Streß total – der Auslöser ist allgegenwärtig, er tritt in der Familie, in der Schule und im Freizeitbereich auf. Hätschelkinder haben es ebenso schwer, mit dem Leben zurecht zu kommen, wie diejenigen, die ständig zu neuen Leistungen getrieben werden. Auch wenn Eltern keine klaren Erziehungsprinzipien erkennen lassen und ihre Kinder quasi durch diverse Erziehungsziele verwirren, liegt der Absturz in die Sucht nicht fern. Eltern, die mit ihrem Leben selbst überfordert sind, wie die von Dennis, gehen unter der Last der Alltagsbewältigung in die Knie. Zudem durchlaufen Familien immer rasanter die Stadien der Entwicklung, und immer seltener präsentieren sich Eltern als Vorbilder im Leben.

Allein am schlechten Willen der Eltern liegt es nicht, wenn Kinder drogenabhängig werden. Nimmt der Streß in der Schule zu, fangen die Kids mit dem Qualmen an. Mit zehn Jahren sind bereits 38 Prozent aller HauptschülerInnen starke Paffer. Nur jede/r fünfte einer Real- oder Gesamtschule tut es ihnen nach, hingegen mur jeder zehnte Gymnasiast. Rauchen sehen zwar auch sie als probates Nervenberuhigungsmittel an, jedoch finden sie es imageschädigend. Die Bielefelder Jugendforscher ziehen den Schluß, daß die unterschiedlichen Werte in direktem Zusammenhang mit mit der Prestigeeinstufung der Schulform in der Öffentlichkeit stehen. Auch hier sehen sie Indizien dafür, daß sich die Wettbewerbsstruktur der Gesellschaft auf die Kinder voll auswirkt.

Alkohol ist klassenlos. Jeder zweite Gymnasiast sucht den regelmäßigen Rausch, wöchentlich oder täglich. Versoffener sind dagegen nur noch die (männlichen) Auszubildenden, 60 Prozent ertränken ihren Frust. Verwunderlich? Die Angaben entsprechen fast genau ihren Zukunftschancen. Kürzlich befragte die IG Metall 130.000 Auszubildende, noch nicht einmal 50 Prozent von ihnen haben die Aussicht auf einen unbefristeten Arbeitsvertrag.

Angst vor der Zukunft haben ein Drittel aller 18- bis 29jährigen, so eine neue Emnid-Umfrage. Jede/r vierte fühlt sich „mutlos und niedergeschlagen“. Trotzdem werden Jugendliche in der Schule unablässig auf einen Existenzkampf getrimmt, als ob es darum ginge, nach Schulende sofort die besten Managerposten zu ergattern. „Die Schule“, sagt Jugendforscher Hurrelmann, „ist heute die Verkörperung der Leistungsgesellschaft in einer solchen Schärfe und Konsequenz, wie sie sich im Berufsleben nur selten abzeichnet.“ Damit die Leistungskurve stimmt, muß Dope her. Jeder dritte Jugendliche langt mindestens einmal in der Woche in den häuslichen Medikamentenschrank. Grippemittel und Kopfschmerztabletten mögen fast die Hälfte aller Kleinen unter zwölf Jahre gerne, fast jede/r zehnte in dieser Altersgruppe schluckt Schlaf- und Beruhigungspillen. Mit 17 steigen sie um auf Aufputschmittel. Angst vor Klassenarbeiten, gefährdete Versetzungen, bei fast allen Schulschwierigkeiten gerät die Psychosomatik aus dem Lot, und schon werden Kopfschmerzen, Kreislaufbeschwerden und Magenschmerzen mit Pharmaklopfern behandelt. Vestärkte gesundheitliche Beschwerden setzen die Suchtspirale in Gang. Über gesundheitliche Beschwerden klagen Mädchen häufiger als Jungs.

Mit zunehmendem Alter werden auch geschlechtsspezifische Drogenmuster deutlich; Mädchen bleiben bei Glückspillen, während Jungs dem Alk zusprechen. Um mit ihrem Leben fertig zu werden, setzen die Jugendlichen nicht nur auf die entspannende und betäubende Wirkung von Alkohol und Zigaretten. Leistungssteigernde Drogen sind auf dem Vormarsch. „Doping in Eigenregie“, nennt Hurrelmann das.

Die Habenichte von morgen lieben – wie Dennis – den Drogenkonsum in Gesellschaft. Diejenigen, die sich statt in einem eingeschriebenen Verein lieber in der Clique treffen, sind stark suchtgefährdet. Die Jugendforscher aus Bielefeld fanden die Unterschiede heraus: jeder vierte Cliquengänger hängt täglich oder wöchentlich bis zum Vollrausch an der Flasche, hingegen nur jeder zehnte Vereinsmeier. Die Clique verleitet nicht nur zum Suff, sondern auch zu riskanten Mutproben. Nahezu jeder zweite Junge und jedes vierte Mädchen hat sich bereits im Suff geprügelt, Sachen beschädigt oder geklaut. Über Zehnjährige, die im Joggingtempo die Autobahn überqueren, wundert sich Jugendforscher Hurrelmann nicht mehr. Fast die Hälfte aller Todesfälle in der Altergruppe der 10- bis 20jährigen gehen auf Unfälle zurück, an zweiter Stelle steht Selbsttötung. Hurrelmann sieht einen engen Zusammenhang mit Drogenkonsum.

Warum tun sie sich das alles an? Sie sind sich durchaus der Gefahren ihres Handelns bewußt. Kids versprechen sich Vorteile für Anerkennung, mehr Zuwendung und Aufmerksamkeit. „Sie suchen einen scheinbar leistungsfreien Freizeitbereich, um ihren Hunger danach zu stillen“, diagnostiziert Jugendforscher Hurrelmann. Zudem erleben viele schon früh Sinndefizite und reagieren mit Flucht in den Rausch, in die Ekstase oder in selbstzerstörerische Depressionen. Vielen Jugendlichen fehlt es aber auch schlichtweg an Möglichkeiten und Räumen für Abenteuer und Spannung. Sie wissen oftmals einfach nicht, wohin mit ihrer Lebenskraft.

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