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■ Zwei 16jährige überfallen einen Kioskbesitzer und bringen ihn um, wahlkämpfende Politiker fordern härtere Strafen, doch Warnungen von Jugendforschern verhallen ungehörtDer Pawlowsche Reflex

Zwei 16jährige überfallen einen Kioskbesitzer und bringen ihn um, wahlkämpfende Politiker fordern härtere Strafen, doch Warnungen von Jugendforschern verhallen ungehört

Der Pawlowsche Reflex

Die Nachricht war kaum einen Tag alt, da fing die Hetze wieder an: Zwei 16jährige hatten am Montag nachmittag in Hamburg-Tonndorf einen 73jährigen Lebensmittelhändler erstochen und dabei 220 Mark erbeutet. „Onkel Willi mußte sterben, weil zwei 16jährige nicht in den Griff zu kriegen sind“, titelte daraufhin die Hamburger Morgenpost unter dem Schlagwort „Das Blutbad von Tonndorf“. Und Bild zeterte auf der Titelseite: „Justizschande – Deutschland wütend: Wacht endlich auf!“ „Resozialisierung um jeden Preis? Müssen wir umdenken?“ fragte die Bild Politiker und bekam prompt die passende Antwort: „Ja“, sprach Innenminister Manfred Kanther (CDU) – und Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) befand: Geschlossene Heime für jugendliche Straftäter müssen sein.

Die beiden Hamburger Jugendlichen sind bei Polizei und Justiz keine Unbekannten. Vor dem mutmaßlichen Messerstecher hätte die Polizei die Hamburger Justizkreise bereits im Vorfeld gewarnt, heißt es aus Polizeikreisen. Der 16jährige soll brutal und geistig verwirrt sein. Trotzdem soll er vom Jugendrichter nicht in eine psychiatrische Anstalt überwiesen worden sein – sondern in ein offenes Jugendheim. Dort lebt auch sein mutmaßlicher Komplize – obwohl die Polizei auch bei diesem „notorischen Verbrecher“ weitere schwere Straftaten vorausgesehen hatte.

In ihrem Geständnis gaben sie an, den Überfall schon vorher geplant zu haben. Sie hätten dazu in einem Einkaufszentrum ein dreiteiliges Messerset und ein Paket Seidenstrümpfe gekauft. Das geraubte Geld hätten sie sofort nach der Tat geteilt und sich danach getrennt. Die Ehefrau fand ihren Mann blutüberströmt und mit mehreren Messerstichen im Oberkörper auf. Er starb noch am Tatort. Die beiden Jugendlichen müssen jetzt mit einer Anklage wegen Mordes rechnen. Sie wurden bereits dem Haftrichter vorgeführt. Erst wenn die Polizei fertig ermittelt habe, wird es zu einer Anklage kommen, teilte die zuständige Staatsanwaltschaft mit.

Die heftige und prompte Reaktion von Medien und Politik dürfte führenden Jugend- und Gewaltforschern jetzt bitter aufgestoßen sein. Nachdem sie zum ersten Mal Forschungsergebnisse aus unterschiedlichen Disziplinen zu einem geschlossenen Bild der Situation von Jugendlichen zusammen geführt hatten, waren die Wissenschaftler derart alarmiert, daß sie kollektiv Alarm schlugen. Das war vor zwei Monaten – doch in der Öffentlichkeit regte sich nichts.

Die kritische Grenze sei erreicht und der innere Friede in Gefahr, warnten die 13 Kriminologen, Soziologen und Erziehungswissenschaftler. „Wenn wir nicht bald etwas tun, werden wir Zustände wie in den französischen Vorstädten haben“, warnte der Jugendsoziologe Roland Eckert vom Institut für Soziologie der Uni Trier. Seit Jahren würden sie dramatische Daten zusammentragen – „aber es passiert gar nichts“. Dabei müßte sich dringend etwas tun, meinen die Forscher.

Die Zahl jugendlicher Täter und Opfer im Bereich der Gewaltkriminalität hat sich laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) in den letzten zehn Jahren verdreifacht. Doppelt so viele Jugendliche sind im Vergleich zu Anfang der 90er arbeitslos. Knapp eine Million der rund 14 Millionen unter 14jährigen lebt von der Sozialhilfe. In Hauptschulen, aber auch in Berufs- und Gesamtschulen sammeln sich die, die in der Konkurrenz nicht mithalten konnten und zu „kriminellen Ersatzkarrieren“ greifen. „Hier braut sich was zusammen“, fürchtet deshalb der Bielefelder Sozialisationsforscher Klaus Hurrelmann: „Problem- oder Verliererfamilien“ siedeln sich in Randzonen und Aussiedlerghettos an. „Da bedarf es dann vielfach nur kleiner Anlässe, damit der Funke überspringt“, resümieren die Wissenschaftler.

Doch statt nach härteren Strafen und geschlossenen Erziehungsanstalten zu rufen, fordern sie: Wir brauchen eine neue Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Jugendpolitik – gegen die gefährliche Ausgrenzung von Benachteiligten (siehe Kasten). Tatsächlich bestätigt eine neue Studie vom Kriminologischen Institut Niedersachsen den Zusammenhang zwischen zunehmender Gewalt und dem Trend zur „Winner-und-Looser-Kultur“. Institutsleiter Christian Pfeiffer startete vor zwei Jahren ein bislang einmaliges Projekt: Eine Gewalt-Befragung unter 18.000 deutschen Schülern und 8.000 im europäischen Ausland der neunten Klassen. Auswertungen erster Städte ergaben: „Wir haben es bei Tätern und Opfern mit Verlierern zu tun“, so Pfeiffer. Das brisante Ergebnis: Türkische Kinder und Kinder aus Aussiedlerfamilien sind die „größten Opfer sozialer Benachteiligung“. Sie sind dreimal so oft Täter oder Opfer – weil sie unter den drei „Hauptrisikofaktoren“ zum späteren Täter- und Opferdasein leiden: „Soziale Randlage“, „schlechte Zukunftsperspektiven“ und „Gewalt in der Familie“.

So sind nur 10 Prozent der Türken Gymnasiallschüler, dafür aber 50 Prozent Hauptschüler. Außerdem sind sie dreimal häufiger Opfer von „innerfamiliärer Gewalt“ – wegen kultureller und sozialer Problemlagen in den Familien mit „häufig arbeitslosem Vater“. Die Studie bestätigt laut Pfeiffer folgenden Zusammenhang: „Wer zu Hause geschlagen wird, tritt draußen zurück.“ Immerhin 14 Prozent der Befragten werden zu Hause geprügelt und geschlagen. „Gewalt hat nichts mit dem Paß zu tun“, wehrt der Kriminologe deshalb mögliche Fehldeutungen ab: Sonst müßten auch türkische Gymnasiallschüler zuschlagen. Die Gewaltbereitschaft nehme aber bis zum Gymnasium beständig ab. Eine neue Politik gegen die Verlierergeneration fordern jetzt Pfeiffer und seine Kollegen – statt mit „einsperren und wegschließen“ zu reagieren. Als auf diese Forderungen niemand reagierte, kündigten sie weitere Proteste im Herbst nach der Bundestagswahl an: „Die Medien machen jetzt sowieso, was sie wollen“, klagt der Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer vom Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung: „Im Wahlkampf kann ohnehin keiner klar denken.“ Katja Ubben

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