Zunehmender Mobilitätsdruck: Fernpendeln gefährdet die Gesundheit
Immer mehr Deutsche arbeiten weit weg vom Wohnort und kehren nur am Wochenende dorthin zurück. Das macht krank und belastet die Partnerschaft, zeigt eine Studie.
Jeden Sonntagabend findet auf den Bahnhöfen deutscher Städte ein Ritual statt: Paare umarmen und küssen sich, bevor das Warnsignal ertönt und sich die Türen des ICE-Waggons schließen. Während sie von der Bahnsteigkante zurücktritt, sucht er wehmütig seinen Sitzplatz. Vor ihm liegen vier Stunden Zugfahrt - und eine lange Arbeitswoche. Erst am Freitagnachmittag, wenn im Büro alles erledigt ist, wird er seine Partnerin wiedersehen.
Solche Fernbeziehungen, wie Sozialwissenschaftler sie nennen, sind ein schnell zunehmendes Phänomen. Vor zwei Jahrzehnten lebten 6 Prozent der Paare unfreiwillig an verschiedenen Wohnorten, inzwischen sind es mehr als 11 Prozent. Hauptursache ist der Mobilitätsdruck: Gerade für gut Ausgebildete ist es manchmal schwierig, für beide Partner einen passenden Job in derselben Region zu finden.
Das Doppelleben erzeugt Stress und gefährdet die Gesundheit. In einer Untersuchung, die die Universität Mainz und das Bamberger Staatsinstitut für Familienforschung durchführten, klagen zwei Drittel der Fernpendler über psychische und körperliche Belastung. Häufiger als Arbeitnehmer mit kurzen Anfahrtswegen leiden die Vielfahrer unter Kopfschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden, Müdigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten. Sie beschreiben zudem, wie ihr Alltag durcheinandergerät, dass sie zum Beispiel Arzt- oder Behördenbesuche immer wieder aufschieben. Auch der Sport, Fortbildungen, das Vereinsleben und der Bekanntenkreis kommen zu kurz.
Das Wochenende ist meist für die Partnerin reserviert. Am Zweitwohnsitz, wo es an Freunden ohnehin mangelt, wird lange gearbeitet. Vor "sozialer Desintegration" warnt der Mainzer Soziologe Norbert Schneider: "Wenn zu Hause niemand ungeduldig wartet, kann man ohne schlechtes Gewissen bis Mitternacht im Büro bleiben."
75 Prozent der Fernpendler bewerten laut der Studie positiv, dass ihr Job ihnen Spaß macht und sie weiterbringt. Ein Viertel der Befragten gibt jedoch an, das dauernde Unterwegssein schade der Zweierbeziehung. Die Hälfte klagt über zu viel Reisen; für 60 Prozent ist die finanzielle Belastung durch hohe Fahrtkosten und doppelte Haushaltsführung ein Problem.
Nur besonders Privilegierten zahlt der Arbeitgeber dauerhaft die Unterkunft am Arbeitsort. Die anderen kommen in billigen Pensionen, bei Freunden oder Kollegen unter, oder sie bilden mit Leuten in ähnlicher Lage eine Wohngemeinschaft auf Zeit. Pendler-WGs, in denen Außendienstler, Manager oder Ingenieure befristet Tür an Tür leben, bieten neben einem Schlafplatz auch geselliges Leben am Abend und willkommene Abwechslung vom Berufsalltag.
Den Partnerinnen am eigentlichen Wohnort - Männer pendeln doppelt so häufig wie Frauen - ist damit wenig gedient. Die Nachteile der Mobilität treffen laut der Untersuchung Frauen stärker. Das ständige Hin- und Herfahren "verringert die Paarzufriedenheit und erhöht das Trennungsrisiko", warnt Forscher Schneider. Das Leben aus dem Koffer sei häufig ein Ersatz für den angstbesetzten Komplettumzug. Viele Menschen träfen eine Entscheidung, deren Folgen "eigentlich schlimmer sind als ein Wohnortwechsel".
Jüngere Arbeitnehmer betrachten das Fernpendeln meist als Zwischenphase, die sie für ein paar Jahre akzeptieren und dann aufgeben wollen. Manche sehen die räumliche Distanz sogar als Vorteil, weil sie sich während der Woche voll auf ihren Job konzentrieren können. Andere leiden unter dem Alleinsein, und wenn ihre Partnerschaft zerbricht, liegt das oft auch am instabilen Lebensentwurf. Mangel an Nähe und Austausch und das Fehlen eines gemeinsamen Alltags sind die wichtigsten Gründe dafür, dass Fernbeziehungen scheitern. Im Schnitt halten sie drei Jahre: Dann ziehen die Partner entweder an einem Ort zusammen - oder sie trennen sich.
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