Zunahme psychischer Diagnosen: Outing ist immer noch heikel
Früher wurden seelische Beschwerden oft hinter anderen Diagnosen versteckt. Doch in der freien Wirtschaft ist ein Outing nach wie vor problematisch.
D ie Zahl der Fehltage wegen psychischer Diagnosen hat sich in den vergangenen 20 Jahren in Deutschland verdreifacht – und das ist auch Zeichen einer Liberalisierung. Denn früher wurden seelische Beschwerden oft hinter den Diagnosen von Rückenbeschwerden oder Magengeschwüren versteckt, heute hingegen geht eine psychische Krise oftmals als „Depression“ durch. Das ist gut, denn eine gewisse Entstigmatisierung seelischen Leidens ist nötig. Erst recht in einem Land, in dessen Vergangenheit Durchhalteparolen das Menschenbild prägten und psychisch Kranke sogar gezielt ermordet wurden.
Aber man soll sich nicht täuschen lassen: Es ist nach wie vor sehr heikel, sich einem Arbeitgeber mit einem seelischen Leiden zu offenbaren. Wer einen sicheren Job hat im öffentlichen Dienst, am Ende seines Berufsweges steht und – etwa im Schulbereich – auch von anderen KollegInnen weiß, die wegen einer Depression ausfielen, für den oder die ist es vielleicht weniger folgenreich, sich als seelisch angeknackst zu outen.
In jüngerem Alter und in der freien Wirtschaft hingegen ist ein Outing durchaus immer noch problematisch, denn wenn der Arbeitgeber einen Untergebenen erst mal als „wenig belastbar“ verortet hat, kann es mit den Karrierehoffnungen eher mal vorbei sein.
Insofern ist es richtig, wenn Menschen in psychischen Krisen zwar die Pflicht haben, über das Ausmaß ihrer aktuellen Arbeitsunfähigkeit zu informieren, aber auch das Recht besitzen, nur das preiszugeben, was sie wollen.
Der Begriff „Burnout“ als mündliche Begründung für einen Arbeitsausfall kann da hilfreich sein. Denn „Burnout“ klingt nach Krise, aber offenbart nichts Genaueres: ob man die Arbeit aus schierer Überlastung nicht mehr schafft, ob man im Großraumbüro Angstattacken bekommt oder den Verlust des Liebsten nicht verkraftet hat. Geht ja schließlich auch niemanden etwas an.
Gerade seelisch Vulnerable haben ein Recht auf ein schützendes Narrativ, über das am Ende nur sie selbst entscheiden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier