Zum Werk Alexander Mitscherlichs: Die Unfähigkeit zu würdigen

Alexander Mitscherlich war eine der intellektuellen Gründungsfiguren der Bundesrepublik. Bei einem Symposion in Jena drängt sich der Eindruck auf: Es geht um einen kompletten Denkmalabriss.

Von links: SDS-Vorstandsmitglied Juergen Krahl, Schriftsteller Martin Walser und Prof. Dr. Mitscherlich bei einer Kundgebung zu den Notstandsgesetzen am 28.05.68. Bild: ap

Alexander Mitscherlich war Arzt, Sozialpsychologe, Großintellektueller, Polemiker, Berichterstatter des NS-Ärzteprozesses 1946, Institutsgründer, Zeitdiagnostiker, Bestsellerautor, Soziologe, Mentor von Jürgen Habermas und Gründer der Zeitschrift Psyche. Vielleicht war - nicht als Autor ideengeschichtlicher Standardwerke, aber als öffentliche Figur - in der Bundesrepublik der 60er-Jahre niemand wirksamer als er. Nach Günter Grass und Walter Jens steht nun mit Mitscherlich, geboren 1908, gestorben 1982, eine weitere intellektuelle Gründerfigur auf dem Prüfstand. Die Kritik entzündet sich, grob gesagt, an drei Fronten: an seinem Werk, seiner Biographie vor 1945 und seiner Rolle als Großintellektueller.

Das Werk: "Die Unfähigkeit zu trauern", verfasst 1967 von Alexander und Margarete Mitscherlich, ist einer der am hartnäckigsten missverstandenen Titel. Im Alltagsgebrauch meint er längst die moralische Kritik an der westdeutschen Wirtschaftswundergesellschaft, die die Ermordung der Juden mit achselzuckender Ignoranz bedachte. Doch die Mitscherlichs hatten in erster Linie die verdrängte Trauer um Hitler im Blick. Um die drohende Melancholie zu vermeiden, die der Untergang des geliebten Führers hätte auslösen können, stürzten sich die Deutschen in den Wiederaufbau. So die Grundthese.

Dieses Missverständnis wurzelt aber im Text selbst, in dem die Autoren in irritierend wechselnden Rollen auftreten: mal als Moralisten, die die Gesellschaft zur Erinnerung ermahnen, dann als Sozialpsychologen, die die Volksseele begutachten, dann als Psychoanalytiker.

"Die Unfähigkeit zu trauern" ist, etwa von Tilman Moser, schon früher scharf angegriffen worden - doch die Kritik des Publizisten Christian Schneider (bei der unter anderem von Norbert Frei initiierten Tagung über "Psychoanalyse und Protest") hatte es in sich. Trauer ist bei Freud ein spontaner Affekt, mit dem das Individuum den Verlust eines geliebten Objekts verarbeitet. Trauerarbeit ist der Versuch, zu vergessen - bei den Mitscherlichs wird sie indes in einer moralischen Volte zum Gegenteil: zum Appell, zu erinnern. Mitscherlichs Rückgriff auf Freud war, so Schneider, ein "unredlicher" Versuch, die Autorität des vertriebenen jüdischen Intellektuellen Freud für eigene Zwecke zu benutzten. Ein Fall von Missbrauch also. Und ein weitreichender Vorwurf, zumal Mitscherlich Begründer des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts war, an dem Schneider später arbeitete.

Die Schwächen der "Unfähigkeit zu trauern" sind unübersehbar. Aber war das Buch wirklich nur, wie in Jena angedeutet wurde, eine moralische Distinktionsgeste der Eliten, die sich 1967 von den Massen abgrenzen wollten? Immerhin war es ja auch der Versuch, über Wünsche zu reden, die verschwiegene Bindung an Hitler zu thematisieren und die betonierte Front von Schweigen und moralischer Verdammung der Eltern zu lockern.

Doch in Jena war man sich verblüffend einig. Jenseits von ein paar Höflichkeitsadressen war das Urteil klar: Mitscherlichs Werk ist veraltet, oft merkwürdig erfahrungslos - weder Micha Brumlik noch Norbert Frei mochten da widersprechen. Viele Angreifer, kaum Verteidiger. Nur die Sozialpsychologin Karla Brede versuchte eine Ehrenrettung von Mitscherlichs "eingreifender Sozialpsychologie". Doch "Die Unfähigkeit zu trauern", so der nahezu einmütige Konsens in Jena, war letztlich nicht mehr als ein "Logo" (Hans Martin Lohmann) der entstehenden Betroffenheitsgedenkkultur.

So kann man es sehen. Eine kühle Historisierung klingt allerdings anders. In Jena wurde man hingegen den Verdacht nicht los, dass in dieser Abrechnung das eigene Unbehagen in der Gedenkkultur auf Mitscherlich zurückprojiziert wurde.

Die Biographie: "Krieg ist besser als Knechtschaft". Diese Widmung schrieb Ernst Jünger seinem jungen Freund Alexander Mitscherlich in den 30er-Jahren in ein Exemplar seines Buches "Der Arbeiter". Mitscherlich bewunderte den Antidemokraten Jünger und war fasziniert von dessen antibürgerlichem Habitus. 1946 schrieb er an Jünger die Replik: "Krieg ist die Ultima Ratio der Knechtschaft". Das war der Bruch mit den antiparlamentarischen Rechten. Später bekannte Mitscherlich, dass es "schmerzlich war, damals auf der falschen Seite gestanden zu haben".

Dass Mitscherlich seine Affinität zu der Rechten in den 30ern in seiner Autobiographie verkleinerte, irritiert (siehe Interview mit seinem Biographen Martin Dehli). Gerade bei dem Autor, der der westdeutschen Gesellschaft forsch die "Unfähigkeit zu trauern" bescheinigte, ist die moralische Fallhöhe groß. Doch das moralische Urteil verdeckt Mitscherlichs biographisch-intellektuelle Leistung. 1945 wurden viele über Nacht zu braven Demokraten, Mitscherlich nicht. Er verwandelte sich millimeterweise vom rechten Kulturpessimisten zu einem Linksliberalen und entschiedenen Verfechter der Demokratie. Gerade dass Mitscherlich etwa seine elitäre Kritik der Massengesellschaft nach 1945 nicht über den Haufen warf, sondern demokratietauglich umschrieb, zeigt seine intellektuelle Integrität.

Mitscherlich als intellektuelle Figur: Mitscherlich verstand es, sich als Arzt am Krankenbett der Gesellschaft zu inszenieren, der sogar mal CDU-Politiker per Ferndiagnose auf die Couch legte. Er trat als wissenschaftliche Autorität auf, der wusste, wo es langgeht. Heute würde der Gestus des Großdeuters, der Gesellschaftskritiker, Therapeut und Analytiker gleichermaßen zu sein scheint, wohl seltsam anmuten. Wir würden auch seine kulturkritischen Ermahnungen kaum ertragen. Dies kann man - mit Mitscherlich gesprochen - für eine Emanzipation halten. Wir brauchen auch keine Gegenautoritäten mehr, denen, auch wo sie Befreiung predigen, stets Paternalistisches anhaftet.

So kann man es sehen. Allerdings fragt sich, ob der Typus des TV-Intellektuellen à la Norbert Bolz wirklich ein Fortschritt für unsere politische Kultur ist.

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