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Zum Weihnachtsschmausgibt es kein Fleisch, sondern Heu

Zwölf Gänge und Oblaten zur Versöhnung: In Polen folgt das Festmahl am Abend des 24. Dezembers klaren Regeln

Mit einer Rote-Bete-Suppe geht es los Foto: Dreamstime/imago

Aus Warschau Gabriele Lesser

Kurz vor Weihnachten duftet es in Polens Zeitungskiosken nach frischem Heu, würzig und doch ganz zart. Viele Polen fragen schon Tage vorher nach dem Termin der „Heu-Ausgabe“ der Tageszeitungen, denn das in Zellophan verpackte getrocknete Gras riecht viel intensiver als das aus dem Supermarkt oder der Kirche. Und eine Handvoll Heu ist dieser Tage unabdingbar. An wigilia,dem Weihnachtsabend, wird es unter der Tischdecke platziert. Es symbolisiert den Stall in Bethlehem, in dem Jesus zur Welt kam. Es gibt sogar Tischdecken speziell für diesen Anlass, mit einer ausgeschnittenen und mit Ziernaht eingefassten Raute in der Mitte.

Anders als in vielen Ländern Westeuropas wird in Polen aber keine knusprige Pute oder gar eine „polnische Gans“ aufgetischt. Vielmehr ist die ganze Familie tagelang damit beschäftigt, mindestens zwölf Speisen vorzubereiten, darunter als Hauptgericht einen großen gebratenen ­Karpfen. Die zwölf Speisen stehen für die zwölf Jünger Jesu, doch nehmen es viele mit der Zahl nicht so genau. Wichtig ist nur, dass alle am Tisch die Tradition kennen und vielleicht auch darüber plaudern. Die Gerichte sind fleischfrei, weil sich viele polnische Familien bis heute an die – vom Papst längst aufgehobene – Fastenzeit halten, die einst vom St.-Martinstag bis zum Dreikönigstag dauerte.

Richtig los geht es abends am 24. Dezember, wenn der erste Stern am Himmel zu sehen ist. Er soll an den Stern von Bethlehem erinnern, der die drei Könige zum Geburtsort von Jesus leitete. Wenn dann die Kerzen am Tannenbaum brennen und das Glöckchen läutet, darf man ins festlich geschmückte Wohnzimmer.

Dann beginnt das „Oblatenbrechen“. Die Weihnachts­oblate ist rechteckig oder auch rund, sie hat einen Durchmesser von knapp acht Zentimetern und wurde von einem Priester geweiht. Man bricht von der Oblate der jeweils anderen Person ein kleines Stück ab und isst es, wünscht dann alles Gute für das kommende Jahr, umarmt sich und wendet sich der nächsten Person zu. Das Oblatenbrechen ist auch eine Gelegenheit, um sich gegenseitig zu vergeben oder einen Streit aus dem vergangenen Jahr beizulegen. Es soll an das letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern erinnern. Anschließend wird ein erstes Weihnachtslied gesungen.

Erst danach setzen sich alle an die gedeckte Festtafel. Der polnische Weihnachtsschmaus beginnt klassisch mit einer Rote-Bete-Suppe, in der uszka schwimmen kleine zu „Öhrchen“ gebogene Piroggen mit einer Steinpilzfüllung. Von da an gibt es keine feste Reihenfolge mehr, jeder nimmt sich von den Gerichten, worauf er gerade Lust hat. Es gilt nur eine Regel: Alle müssen von jedem Gericht zumindest gekostet haben. Auf dem Tisch muss es zudem ein Gedeck für einen unerwarteten Gast geben oder auch für einen lieben und bereits verstorbenen Verwandten, den man an diesem besonderen Abend fröhlich miteinbeziehen will.

Der Karpfen wird je nach Tradition des Hauses knus­prig gebraten oder auch paniert und ausgebacken serviert. Meist wird er auch zu weiteren Gerichten verarbeitet, etwa als Karpfensalat in einer Pilz-Sauerkraut-Sauce oder als Karpfenhäppchen gefüllt mit einer Petersilienpaste.

Als Beilage kommen meist dampfende Kartoffeln oder schlesische Klößchen auf den Tisch. Beliebt sind auch gebratene Piroggen mit einer Frischkäse-Zwiebel-, einer Spinat-Sauerrahm- oder einer klassischen Pilz-Kraut-Füllung. Fingergerecht zugeschnittene Sticks aus Möhren, Stangensellerie und sauren Gurken gehören zu den frischen Snacks, frittierte Champignons im Teigmantel und goldbrauner Backfisch aus Kabeljau. Dazu gibt es scharfe Meerrettichdips, gerne auch verfeinert mit Roter Bete, Kurkuma oder Petersilie, die die Dips rot, gelb oder grün einfärben.

Natürlich muss noch Platz für einen Nachtisch bleiben. Das ist oft ein Mohnkuchen oder die Süßspeise kutia, die aus gerösteten Getreidekörnern, viel Mohn, kleingehackten Feigen und Datteln, Rosinen, Honig und verschiedenen Nüssen besteht. Der Mohn soll dafür sorgen, dass das Portemonnaie im kommenden Jahr immer gut gefüllt ist.

Auf dem Tisch muss ein Gedeck für einen unerwarteten Gast stehen oder auch für einen lieben verstorbenen Verwandten

Dazu trinkt man kompot, für den an Weihnachten traditionell Trockenfrüchte heiß aufgegossen werden. Der Weihnachts-kompot hat einen leicht rauchig-würzigen Geschmack und kann sowohl heiß als auch kalt genossen werden.

Alkohol darf auf der polnischen Weihnachtstafel ebenfalls nicht fehlen. Oft ist dies ein klarer Wodka, sehr beliebt sind aber auch selbst gemachte nalewki – Liköre, die durch das Aufgießen von Wodka auf Früchte wie Sauerkirschen, Quitten oder Waldbeeren entstehen. Gerne verwendet werden auch Kräuter, Gewürze oder Honig. Der Geschmack ist sehr intensiv. Die besten ­nalewki sind um die fünf Jahre alt.

Zwischendurch werden die Geschenke ausgepackt. Und gegen Ende des langen Abends besuchen die Erwachsenen die Mitternachtsmesse. Sind die Kinder zu aufgedreht, um ins Bett zu gehen, kommen sie einfach mit. An Weihnachten kann man da schon mal eine Ausnahme machen.

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