Zum Tod von Karlheinz Stockhausen: Zurück im All
Schlüsselkompositionen der Neuen Musik wie "Gesang der Jünglinge" stammen von ihm. Er bereitete der modernen Popmusik den Weg, von der Band Can bis zu Techno. Ein Nachruf.
Mit dem Stolz eines Fabrikdirektors staunte Karlheinz Stockhausen 1988 über die Uraufführung seiner Oper "Montag aus Licht" an der Mailänder Scala. "Tausende Stunden an Probenzeit, 35 Tage Einstudierung einer einzelnen Szene in einem Saal mit sieben Solokindern, drei Synthesizern, Schlagzeug, vier Bassettinen usw." Dreizehn Szenen hat diese eine Oper, die wiederum nur ein Teil der Heptalogie "Licht" ist, des größten zusammenhängenden Werks der Musiktheatergeschichte. In 29 Stunden Spielzeit erzählt es das universale Welttheater um die Grundpfeiler Mann, Frau, Gut, Böse, Geburt, Tod anhand der sieben Wochentage. Die Opern, 1977 begonnen, 2005 beendet, konnten bisher nicht in ihrer Gesamtheit aufgeführt werden, und selbst die einzelnen Inszenierungen blieben trotz ihres immensen Aufwands für ihren Schöpfer "nur etwas Primitives im Vergleich zu dem, was ich eigentlich will".
Für Stockhausen war diese Einsicht allerdings kein Grund zur Resignation, sondern eher eine Bestätigung seines Weltbildes: "Dieser Planet ist eine Hilfsschule, ein erster Ansatz zur Vollkommenheit, ein Ahnen von einer besseren, schöneren Kunstwelt." Es gehört zu den Ironien der Musikgeschichte, dass Stockhausens größtes Werk für seine Stellung als einer der einflussreichsten Komponisten der Gegenwart völlig bedeutungslos ist.
Als Stockhausen noch Schulen im herkömmlichen Sinn besuchte, sah die Welt ganz anders aus. Dem 1928 in Mödrath bei Köln geborenen Lehrersohn verlor früh die Mutter. Sie galt als depressiv, kam 1933 in ein Sanatorium und wurde 1941 im Zuge der Euthanasie umgebracht. Der Vater, nebenher Leiter einer Theatergruppe, ließ seinen Sohn von dessen siebtem Lebensjahr an am Klavier unterrichten, meldete sich 1939 zur Wehrmacht und fiel 1945 in Ungarn. Der katholisch erzogene Karlheinz lebte auf dem staatskonformen Internat in einer vom Krieg isolierten Welt, "die ganz uniform und ganz ideologisch festgelegt" war, lernte Violine und Oboe, saß im Salonorchester, begleitete Schlager- und Karnevalssänger.
Ein Ohr für Neue Musik
Sieben Monate vor Kriegsende wurde er als Krankenträger im Frontlazarett eingesetzt, wo er Opfer von Phosphorbomben betreute, deren Köpfe "wie Kugeln aus Schaumgummi" ausgesehen hätten, in denen er "mit dem Strohhalm ein Loch bis zum Mund zu finden" versuchen musste. Erlebnisse, durch die ihm der Tod zu "etwas vollkommen Relativem" wurde. Der Kölner Musikwissenschaftler Christoph von Blumröder sammelte diese autobiografischen Aussagen. Man kommt nicht umhin, in diesen traumatischen Erfahrungen die Wurzel von Stockhausens jenseitigem Weltbild zu sehen. Und aus der früh aufgezwungenen Selbstständigkeit wird sich sein manisch anmutendes Arbeitsethos ("Für mich ist jede Stunde eine Stunde der Arbeit") ableiten.
Unterbrochen, aber auch unbefleckt von der Zeit der Naziherrschaft traf die seit Begin des Jahrhunderts entstandene Neue Musik im Nachkriegsdeutschland auf offene Ohren. Stockhausen studierte von 1947 bis 1951 an der Musikhochschule Köln, belegte Kurse bei Oliver Messiaen, unterrichtete an den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt und fand im Studio für elektronische Musik des WDR einen Platz, um seine musikalischen Welten zu bauen. Zwischen 1955 und 1967 entstanden Werke wie "Gesang der Jünglinge", "Kontakte" und "Hymnen", in denen er von Stimmen, herkömmlichen Instrumenten und elektronischen Apparaten erzeugte Geräusche, Töne und Klänge als gleichberechtigtes Material verwendete und ohne die Begrenzungen klassischer Strukturen organisierte. Sein bis heute anhaltender Ruf wäre kein anderer, wenn er sich seit den späten 60ern nur noch als Hobbygärtner betätigt hätte (der er auch war).
Stattdessen platzierten ihn die Beatles auf dem Cover ihrer "Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band"-LP. Während der Streber Paul McCartney für sich in Anspruch nimmt, als Erster der Fab Four von Stockhausen, will sagen von seinem "Gesang der Jünglinge", angetan gewesen zu sein, hat sich John Lennon mit seiner "Revolution No. 9"-Collage auf dem "Weißen Album" noch am weitesten in Stockhausens Welt gewagt.
Tatsächlich getroffen haben sie sich nie. Ein paarmal telefoniert habe Lennon mit ihm, erinnerte sich Stockhausen später. Trotzdem war sein Ruf als Wegbereiter moderner Popmusik für alle Zeiten zementiert, ja er wurde selbst zum Star. 1970 präsentierte er seine Raummusik im eigens für ihn gebauten Kugelauditorium auf der Weltausstellung in Osaka, in dem der Klang in alle Richtungen gelenkt werden konnte - auch ober- und unterhalb des Publikums. Eine Zusammenstellung von Werkausschnitten erschien als "Greatest Hits"-Doppel-LP, das US-Magazin Rolling Stone widmete ihm 1971 ein ausführliches Porträt.
Miles Davis würdigt Stockhausen in seiner Autobiografie, indem er schrieb, der Komponist habe ihm den Anstoß zu seiner frei strukturierten Musik der 70er gegeben. In der Tat gibt es Passagen in Stockhausens "Aus den sieben Tagen", zu denen man sich nur den Bass von Michael Henderson und Jack DeJohnettes Drums denken muss, um auf Miles Davis "On the Corner" zu landen.
Holger Czukay, der Bassist von Can, besuchte bereits in den frühen 60ern einen Vortrag von Stockhausen am Duisburger Konservatorium. In dessen Verlauf empörte sich ein Zuschauer wütend, Stockhausen wolle sein Publikum lediglich schockieren, um daraus Kapital zu schlagen. Stockhausens Antwort - seine kompositorischen Entscheidungen seien rein musikalisch motiviert und was das Geld betreffe, habe er eine reiche Frau geheiratet - machte auf Czukay so viel Eindruck, dass er ihm drei Jahre als Student die Treue hielt. Die Intuitive Musik, mit der man Czukays spätere Erfolge bei Can am ehesten in Verbindung bringen könnte, ist in Stockhausens Schaffen allerdings eher eine Fußnote geblieben.
Die elektronische Musik, die auch die Düsseldorfer Ralf Hütter und Florian Schneider in Stockhausens Konzerten hörten, bevor sie 1970 ihre Band Kraftwerk gründeten, ist indes die gleiche, die ihm in den 90er-Jahren auch den Titel "Papa Techno" eintrug, eine etwas niedliche Huldigung, die er geschmeichelt wahrnahm, auch wenn er diesen Sohn nie wirklich anerkannte. Zu penetrant war ihm die Periodizität der neuzeitlichen Elektroniker, deren Tanzkultur er akzeptierte, aber für sich ausklammerte. "Mich beginnt die Musik in dem Moment zu interessieren, wenn ich den Musiker experimentieren höre", sagte er. Damit schloss er in erster Linie Unregelmäßigkeiten in Rhythmik und Tonhöhe ein und das Partyvolk eher aus.
Musik anderer hörte er sowieso nur, wenn ihn Außenstehende dazu drängten. Er selbst blieb ganz dem eigenen Werk verhaftet "Ich bin kein allgemeiner Musikgenießer. Ich habe keine Zeit für so etwas" sagte er mir im Herbst 2002, als ich ihn zu einem Interview traf. Im Vorfeld hatte es einen kurzen, regen Brief- und Faxwechsel gegeben, in dem die Terminabsprache einherging mit einem martialisch klingenden Satz: "Berlin muss fallen." Er begriff die Reihe von acht Konzerten, die die Berliner Festwochen für ihn organisiert hatten, offenkundig immer noch als Kampf gegen die Windmühlen des überkommenen Konzertbetriebs. Er schüttelte den Kopf über den Personenkult, der damals um den neuen Chef der Berliner Philharmoniker, Simon Rattle, gemacht wurde, und bemerkte betroffen, wie wenig die Werbung für seine eigenen Konzerte im Stadtbild präsent waren. Gut besucht waren seine Konzerte, ausverkauft nicht.
Universum für ihn allein
Ein Tribut, den er zu zahlen bereit war. Schließlich hatte er seit Mitte der 70er-Jahre, mit der Gründung seines eigenen Verlages, begonnen, sich ein künstlerisches Universum zu schaffen. Er produzierte und vertrieb selbst seine Werke auf CDs und Videos, sorgte mit dem vielbändigen "Texte zur Musik"-Kompendium für seine eigene Sekundärliteratur und bildete in den jährlich stattfindenden Kursen in seinem Wohnort Kürten bei Köln den eigenen musikalischen Nachwuchs aus. Die autarke Welt des Karlheinz Stockhausen ist ein Produkt seiner Originalität, seiner Neugier, seines beständigen Neuerungswillens. Man könnte von Zwang sprechen. Diese Welt war einzigartig und ein Faszinosum für sich. Seine entscheidenden musikalischen Impulse bleiben indes auf seine frühen Jahre beschränkt.
Am Mittwoch ist, wie erst am Wochenende bekannt wurde, Karlheinz Stockhausen im Alter von 79 Jahren an seinem Wohnort Kürten gestorben.
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