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Zum Tag der Deutschen Einheit:Blühende Grenzlandschaft

Einst verlief durch den Schaalsee die innerdeutsche Grenze. Heute boomt die Region, in Ost und West getrennt.

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3.10.2022, 14:48  Uhr

Den Radweg gibt es immer noch nicht. Wer von Zarrentin am Schaalsee nach Groß Zecher radeln will, muss die enge und vielbefahrene Bundesstraße nehmen. „Geht eigentlich nicht“, sagt Klaus Draeger, der ehrenamtliche Bürgermeister von Zarrentin. „Aber die alte Grenze ist noch immer vorhanden.“

Zarrentin gehört zum Kreis Ludwigslust-Parchim in Mecklenburg-­Vorpommern. Groß Zecher liegt im Kreis Herzogtum Lauenburg in Schleswig-­Holstein. Bis 1990 verlief zwischen Zarrentin und Groß Zecher die innerdeutsche Grenze.

Klaus Draeger ist in Zarrentin geboren. Mit der Grenze ist der 67-Jährige­ aufgewachsen, gleich hinter der Stadt begann das Sperrgebiet. Draeger konnte passieren. Als Taxifahrer durfte er Soldaten der NVA, die an der Grenze stationiert waren, zum nächsten Bahnhof bringen. Seine Tante und die Cousine und den Cousin aus Hamburg konnte er in Zarrentin allerdings nicht treffen. Um sie zu sehen, musste er nach ­Hagenow fahren, die nächste Kreisstadt.

Heute ist Draeger einer von wenigen Bürgermeistern in Deutschland, die in einem Kloster arbeiten. Sein Büro liegt im Obergeschoss des ehemaligen ­Zisterzienserklosters, im Erdgeschoss befindet sich die Bibliothek. Die Amtsverwaltung ist größtenteils in einem Neubau zwischen Kloster und Kirche untergebracht, Amtsscheune heißt sie und fügt sich erstaunlich gut ein in das historische Ensemble von Zarrentin am steilen Ufer über dem Schaalsee.

Klaus Draeger, Bürgermeister von Zarrentin Foto: Foto-Friedrich

Die Renovierung des baufälligen Klosters sei „eine der wichtigsten Investitionen nach der Wende“ gewesen, sagt Draeger. Und es blieb nicht die letzte. Die einstöckigen Backsteinhäuser in der parallel zum Ufer verlaufenden Amtsstraße sind hübsch renoviert, hinter dem Kloster hat die Stadt ein Ärztehaus gebaut, gerade ist der dritte Kindergarten in Planung. Dazu kommt ein Schulcampus, den sich ­Zarrentin 40 Millionen Euro kosten lässt. „Wir sind die Stadt mit der höchsten Wachstumsdynamik in Mecklenburg-Vorpommern“, freut sich Draeger.

1.500 Einwohnerinnen und Einwohner zählte Zarrentin zur Wende. Heute sind es fast 5.500. Die Steakhaus-Kette Block House produziert im Gewerbegebiet Fertiggerichte, in der Stadt baut Inhaber Eugen Block gerade ein neues Seehotel. Auch das Fischhaus, das erste Restaurant am Platz, gehört dem ­Hamburger.

Zarrentin und das knapp 70 Kilometer entfernte Hamburg, das ist seit der Wende eine besondere Liaison. „Früher waren wir Sperrgebiet, heute sind wir Metropolregion Hamburg“, sagt ­Draeger dazu. „Manchmal ist das ­Leben auch gerecht.“

Es gibt sie also, die blühenden Landschaften, die nach der Wende im ­Osten entstehen sollten. Nur machen sie an der ehemaligen Grenze noch immer halt. Dass der Radweg nicht gebaut wurde, hat für Klaus Draeger auch damit zu tun, dass es keine gemeinsame Vermarktung der Region gibt. „Seitdem ich 2014 im Amt bin, gab es einen einzigen Termin, auf dem das Thema Radweg diskutiert wurde“, sagt Draeger. „Manchmal ist die Zusammenarbeit etwas schwierig.“

Wenn die Vögel kommen

Der Schaalsee ist mit einer Fläche von 24 Quadratkilometern der zweitgrößte See in Schleswig-Holstein und der fünftgrößte in Mecklenburg-Vorpommern. Mit 72 Metern ist er der tiefste See Norddeutschlands. Doch es sind nicht diese Zahlen, die den Schaalsee einzigartig machen, sondern es ist die Natur, die sich im ehemaligen Grenzgebiet nahezu ungestört entwickeln konnte.

Zu Zeiten der deutschen Teilung wurde der Schaalsee zum Rastplatz für Zugvögel, zu Tausenden sammeln sie sich hier, bevor sie in den Süden weiterziehen. Das Trompeten der Kraniche gehört ebenso zum Schaalseesound wie der Schrei der Rohrdommel. Manchmal kreisen Seeadler. 2019 wurde der Schaalsee vom BUND wegen seiner Artenvielfalt als “Lebendiger See des Jahres“ ausgezeichnet.

Eine der versteckten Idyllen am Schaalsee ist das Gut Groß Zecher auf der schleswig-holsteinischen Seite. Im Café und Restaurant „Zur Kutscherscheune“ werden regionale Zutaten verarbeitet, das ehemalige Herrenhaus beherbergt ein Hotel, auf ­Infotafeln wirbt der Naturpark Lauenburgische Seen für die Naturlandschaft am Schaalsee.

Die Klosterkirche in Zarrentin

1961, im Jahr des Mauerbaus, wurde der Naturpark gegründet, er erstreckt sich von Ratzeburg im Norden bis ­Büchen im Süden, von Mölln im Westen bis nach Groß Zecher am Schaalsee im Osten. „Sie alle möchten friedlich mit Ihnen zusammenleben“, steht auf einer Tafel über bedrohte Vogelarten.

Für die Naturschützer gestaltet sich das „Zusammenleben“ an der ehemaligen Grenze allerdings bis heute kompliziert. Im Naturpark Lauenburgische Seen stehen jene Flächen am Schaalsee unter Schutz, die bis 1990 zur Bundesrepublik gehörten. Die ehemaligen Gebiete der DDR gehörten seit 1990 zunächst zum Naturpark Schaalsee, seit dem Jahr 2000 sind sie ein Unesco-Biosphärenreservat.

„Eigentlich waren die Planungen für das Biosphärenreservat länder­übergreifend“, betont Anke Hollerbach. Die 46-Jährige leitet das Großschutzgebiet seit 2021, ihre Verwaltung sitzt im „Pahlhuus“, dem neu gebauten Pfahlhaus am Rande von Zarrentin. Mittlerweile ist das Gebäude samt Besucherzentrum selbst zur Attraktion geworden. Vom Pahlhuus ist es nur ein Katzensprung zum Moorerlebnispfad im Süden des Schaalsees. Auf einem Bohlenweg führt der Pfad durch das Kalkflachmoor.

Zu einem grenzüberschreitenden Biosphärenreservat mit Schleswig-­Holstein ist es am Schaalsee nicht gekommen. „Das ist dort am Widerstand der Flächeneigentümer gescheitert“, bedauert Hollerbach. „Die haben gesagt, guckt doch mal nach drüben, die dürfen da gar nichts. Das wollen wir hier nicht.“ Ängste seien das, die sich hartnäckig hielten, obwohl sie sachlich gar nicht begründet seien.

Umso bedauerlicher findet Hollerbach diese Entscheidung, da auf der ehemals bundesdeutschen Seite einer Ausweisung nichts im Wege stünde. „Da gibt es Naturschutzgebiete und auch Gebiete, die nicht mehr bewirtschaftet werden“, zählt Hollerbach auf. „Damit sind wesentliche Grundvoraussetzungen für die Ausweisung als Biosphärenreservat erfüllt.“

Erst Grenzer, dann Ranger

Vorbehalte gegenüber einem Biosphärenreservat gab es auch in Zarrentin, erinnert sich Bürgermeister Klaus Draeger. „Die Leute haben gesagt: Erst ­hatten wir die Grenzer, jetzt kommen die Ranger.“

Tatsächlich ist in Zarrentin nur eine bestimmte Anzahl von Ruderbooten auf dem See erlaubt. Das Einsetzen von Stand-up-Boards ist untersagt. Zu den Besonderheiten eines Biosphärenreservats in Mecklenburg-Vorpommern gehört, dass es die Funktion einer unteren Naturschutzbehörde übernimmt. Das Biosphärenreservatsamt kann im Zweifel also auch Verbote aussprechen. Doch der Stadt ist es gelungen, mit den Kritikern ins Gespräch zu kommen. „Wir haben den Frust rausgenommen“, sagt Draeger. „Langfristig gesehen konnte uns nichts Besseres passieren.“

Bootshäuser an der Schaalsee­promenade in Zarrentin Foto: Matthias Görlich/imago

Das kann Anke Hollerbach bestätigen. „Es gibt Untersuchungen, denen zufolge 20 Prozent der Besucherinnen und Besucher alleine wegen des Biosphärenreservats in die Region kommen“, sagt sie. Das sei in keinem anderen deutschen Biosphärenre­servat der Fall. Anders als etwa der Spreewald sei der Schaalsee nach der Wende eine No-Name-Region gewesen. „Den kannte niemand im Westen“, sagt sie. „Der Schaalsee als Tourismusziel ist erst nach der Wende entstanden. Durch das Biosphärenreservat.“

Unten an der Promenade sind auch im Herbst viele Besucherinnen und Besucher unterwegs. Manche bewundern die teilweise reetgedeckten, historischen Bootshäuser, andere lauschen dem Plätschern des glasklaren Wassers. „Im Sommer ist hier ein Gedränge, da ist an den Wochenenden oft kein Durchkommen“, sagt Natalie Niehus. Als ehrenamtliche Vorsitzende des Gewerbe- und Tourismusvereins weiß Niehus, dass es Overtourismus auch in der deutschen Provinz geben kann.

Grenze: Der Schaalsee ist ein geteilter See. Bis zum 3. Oktober 1990 verlief die innerdeutsche Grenze mitten durch den See. Zarrentin war DDR-Grenzstadt. Groß Zecher lag im Zonenrandgebiet der BRD. Heute verläuft durch den Schaalsee die Grenze zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein.

Grenzhus: Heute erinnert das Grenzhus in Schlagsdorf an den ehemaligen Grenzverlauf. Auf einem Rundwanderweg um den Mechower See lässt sich die Grenzsituation erlaufen.

Grenzabkommen: Die endgültige Grenze in der Schaalsee­region wurde erst im November 1945 festgelegt. Weil die Briten nur schwer in die Gebiete östlich des Schaalsees kamen, die zu ihrer Besatzungszone gehörten, wurde im Barber-Ljaschtschenko-Abkommen ein Gebietstausch vereinbart. Die betroffenen Einwohner mussten innerhalb 24 Stunden entscheiden, ob sie evakuiert werden wollten. Die Evakuierung erfolgte über die Stintenburg­insel und den Kampenwerder und dann weiter mit Fischerbooten. Informationstafeln über das Abkommen, das auch Gadebuscher Vertrag genannt wird, gibt es unter anderem in Lassahn und Techin. Nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung wurde der Gebietsaustausch am Schaalsee nicht wieder rückgängig gemacht.

Grenzenlos: In Zarrentin wird der Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober unter anderem mit der Ausstellung „Kinder, Künstler und Grenzen“ gefeiert. Die Vernissage findet um 10 Uhr statt. Die Ausstellung ist ein Gemeinschaftsprojekt vom Grenzhus, der Evangelischen Kirche, der Fritz-Reuter-Schule und der Stadt Zarrentin. Ab 17.00 Uhr erwartet die Besucher eine Rock-Lesung mit der Band „Rosa Rock“. Die Band aus Rostock wurde 1983 gegründet und kam 2022, 30 Jahre nach ihrer Trennung, wieder zusammen. (wera)

Wohin aber die Leute schicken, wenn sie anrufen? Am liebsten würde sie für das Ostufer werben mit seinen Dörfern Techin und Lassahn. Wahre Kleinode, die allerdings ein Problem haben: Es gibt kaum touristische Infrastruktur. „Bei uns konzentriert sich alles auf Zarrentin“, sagt Niehus. Wenn Zarrentin voll ist, schickt Niehus die Urlauber in den Westen nach Schleswig-Holstein.

Ein Angebot kann Niehus den Gästen nicht unterbreiten: Im Gegensatz zu anderen ehemaligen Grenzregionen wird das „Grüne Band“ am Schaalsee nicht beworben. Eigentlich sollte mit dem Projekt des BUND die Möglichkeit geschaffen werden, an der 1.393 Kilometer langen ehemaligen Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR entlang zu wandern.

Am Schaalsee ist der ehemalige ­Kolonnenweg entlang der Seeufer nicht als Wanderweg erhalten worden, er ist meist zugewuchert. Ihn wieder zugänglich zu machen, heißt es von Seiten des Biosphärenreservats, sei ein Eingriff in die Natur. So steht auf der Bundesstraße zwischen Zarrentin und Groß Zecher nur ein Schild, das auf die Mauer von 1961 bis 1989 hinweist.

Klaus Draeger, Bürgermeister von Zarrentin.

„Da kommen Hamburger, da darf hier kein Hahn krähen, und es darf nicht nach Gülle riechen“

Wachsen Ost und West am Schaalsee zusammen? Oder ist aus der Grenze zwischen DDR und Bundesrepublik nun eine Grenze zwischen zwei Bundesländern geworden, die mehr teilt als verbindet?

Beim Naturschutzgroßprojekt „Schaalseelandschaft“ arbeiten beide Landkreise seit langem erfolgreich zusammen. Sogar ein Zweckverband wurde gegründet, dem es gelungen ist, mit Bundes- und Landesmitteln, aber auch mit Geldern des WWF, Flächen aufzukaufen und stillzulegen. Eine „Marke“ wie das Biosphärenreservat ist daraus aber nicht geworden. „Das Ausflugsziel auf der schleswig-holsteinischen Seite“, sagt Anke Hollerbach, „ist noch immer der Naturpark Lauenburgische Seen“.

Anke ­Hollerbach, Leiterin des Biosphärenreservats Schalsee Foto: E. Dornblut

Wie der Landkreis Ludwigslust-­Parchim ist auch der Kreis Herzogtum Lauenburg eine Wachstumsregion. Ende 2021 wurde die 200.000er-Marke gerissen, 200.800 Menschen leben nun im Landkreis. 1995 lag die Bevölkerungszahl noch bei 170.000. Vor allem aus Hamburg kommen die Zuzügler in Ratzeburg, Salem oder auch Groß Zecher am Schaalsee. Und in Zarrentin.

Für die stadtmüden Hamburgerinnen und Hamburger gibt es die alten Grenzen nicht mehr. Für die Zarrentiner schon. „Mit den Hamburgern knirscht es immer wieder mal“, lacht Bürgermeister Draeger. „Da kommen manche, da darf dann hier kein Hahn krähen, und es darf nicht nach Gülle riechen.“

Draeger erinnert sich an eine Sitzung des Bauausschusses. Auch da ging es um die besondere Liaison zwischen Zarrentin und Hamburg. „Da saßen drei Hamburger, die ich nicht kannte, und meinten, wenn da nicht bald ein Zug fährt, dann ziehen sie wieder weg.“

Draeger lächelt. „Ich hab dann nichts gesagt, aber jeder wusste, was ich ­gedacht habe.“

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