■ Zum Beispiel Bildung: Die politischen Zentralen danken ab, die kreativen Ideen entstehen anderswo – in Unternehmen und an der Basis: Empowerment
Wer es noch nicht gewußt hat, dem haben es die Koalitionsvereinbarungen gezeigt. Bildung ist das Megathema der Rhetoriker. Bis zum 27. September tönten sie alle: Bildung! Bildung! Die Ressource der Zukunft! Und nun?
Flaute nach viel Wind. Edelgard Bulmahn, die neue Bildungs- und Forschungsministerin, versprach monoton die Verdoppelung der Ausgaben. Das war so recht nach dem Geschmack der „depressiven Zirkel“ (Oskar Negt) im Lehrkörper von Schulen und Hochschulen: solange es nicht mehr Geld gibt, kann man eh nichts machen. Das Motto der Bremer Stadtmusikanten, „Etwas besseres als den Tod finden wir überall“, wäre die politischere Parole.
Gewiß, mehr Geld ist nötig, aber nur in Kombination mit der Einsicht, daß „mehr vom Gleichen keine qualitativen Verbesserungen sichern kann“. Künftig sollten „zusätzliche Mittel an präzise Zielvereinbarungen gekoppelt werden“, um „das Prinzip Folgenlosigkeit“ in Schulen und Hochschulen zu durchbrechen.
Das steht nicht in der Koalitionsvereinbarung, in die es gehörte. Es sind Zitate aus den gestern veröffentlichten Empfehlungen des Sachverständigenrats Bildung, den die Hans-Böckler-Stiftung des DGB berufen hat. Während die neue Regierung als einzige magere bildungspolitische Aussage ein Verbot von Studiengebühren ankündigt und von der versprochenen Verdoppelung der Bildungs-Forschungs-Ausgaben keine Rede mehr ist, bricht der von der Gewerkschaftsstiftung gerufene Bildungsrat das Tabu: Er schlägt individuelle Beteiligung an den Kosten von Schule und Studium vor. Er verlangt, daß die Institutionen öffentlich Rechenschaft geben. Und er hat sich ein intelligentes System von Bildungsgutscheinen und Bildungssparen ausgedacht.
Das ist ehrlicher und auch gerechter als die hundertprozentige Umverteilung über den Staat, deren Masse doch von den Steuern der kleinen Leute aufgebracht wird. Abschied also von der Illusion, der Staat wird's schon richten. Er wird es nicht. Er dankt ab. Wenn auch anders als vor 150 Jahren in einem berühmten Manifest proklamiert.
Bildung ist tatsächlich eine Art Lackmustest. Daran läßt sich die Ohnmacht der Politiker-Politik, ihre Phantasielosigkeit und ihre Feigheit ablesen. Zugleich wird deutlich, wie das Kraftfeld politischen Handelns von den Zentralen an die Basis wandert. Die neue Bildungsrhetorik reflektiert ja, daß mehr und mehr Unternehmen nichts anderes übrig bleibt, als nach Mitarbeitern zu verlangen, die sich nichts sagen lassen, die statt dessen selbst was wollen. Allerdings hält sich die alte Ordnung des Mißtrauens und Selbstmißtrauens und die damit verbundene innere Abwesenheit in Bildungsinstitutionen am längsten.
Ausgerechnet in Unternehmen wird eine aufregende Balance aus Intuition und kritischem Intellekt geübt: sich selbst trauen und sich eben deshalb etwas zutrauen. Mit anderen, vor allem aber mit sich selbst ins Gespräch kommen. Letzteres nennt man seit Platon Denken. Im gängigen Jargon stehen für diesen Wandel die abgedroschenen Nomina: Kreativität und Innovationsfähigkeit.
Als im März dieses Jahres in Münster ein Netzwerk innovativer Schulen gegründet wurde, stellten die dort versammelten 200 Schulen eine Gleichzeitigkeit von Agonie und Aufbruch fest. Der Aufbruch, das war die Botschaft, kann nur von unten kommen. Die alten politischen Zentralen können dafür nur Bedingungen schaffen. Sie können den Prozeß moderieren. Sie müssen für den Fluß der Mittel sorgen. Aber sie sollten nicht so tun, als könnten sie die Zukunft programmieren.
Wohin sich die Initiative nun verlagert, konnte man jetzt im kanadischen Toronto studieren. Dort traf sich das Internationale Netzwerk innovativer Schulen. Initiiert wurde es, wie auch das deutsche Netzwerk, von der Bertelsmann- Stiftung. Immer deutlicher erweist sich die Institution in Gütersloh als einer der kompetentesten Lotsen in den Übergängen von der Industriegesellschaft zu einer zweiten Moderne, in der vieles offen und nur eines klar ist: Es kommt darauf an, was wir daraus machen.
Der Tenor der Debatten in Toronto war: Es wird sich in Schulen gar nichts ändern, wenn sie nicht selbst damit beginnen. Das Schlagwort dafür heißt Empowerment. Es ist schwer ins Deutsche zu übersetzen. Ermächtigung? Machtverschiebung an die Basis! Zur nötigen Autonomie gehört allerdings wie ein Kontrapunkt Accountability, Rechenschaft. Wer autonom ist, muß sich für das, was er tut, verantworten, sonst verspielt er dieses Privileg. Das gilt für den Haushalt einer Schule ebenso wie für die Leistungsentwicklung der Schüler.
Die Frage schließlich, was gelernt werden soll, läßt sich nicht mehr zentral definieren. Wenn 80 Prozent der Technologie, die heutige Schüler später benutzen werden, noch gar nicht erfunden sind, dann müssen Kinder in Schulen vor allem die Erfahrung machen, Wissen selbst zu entwickeln. Sie müssen Erfinder werden. Herkömmliche Schulen haben Ausführende herangezogen. Die Möglichkeit zum Lernen hängt letztlich vom Maß erreichter Individualität ab. Deshalb heißt es Abschied zu nehmen vom Klonen der Köpfe.
Und die Lehrer? „Wenn sie in ihrem Leben nichts anderes gemacht haben, als zu unterrichten oder unterrichtet zu werden, werden sie zum größten Hindernis des Wandels“, sagte in Toronto Steve Benson aus Neuseeland. Wenn aber Lehrer mit dem Lernen selbst anfangen, ändert sich fast alles. Das ist das Geheimnis des Durham Board of Education östlich von Toronto, das vor 15 Jahren Schlußlicht in Kanada war und heute als eines der interessantesten Bildungsbiotope auf dem Globus gilt. Dort begannen Lehrer, sich selbst im „cooperativ-group-learning“ zu üben. Am Anfang waren es zehn, heute arbeiten mehr als 3.000 Lehrer nach diesem Prinzip, das sich wie eine ansteckende Gesundheit ausbreitet.
Daß der neue bildungspolitische Diskurs weitgehend in Gütersloh angestoßen wird, muß zu denken geben. Man hat die Bertelsmann-Stiftung das heimliche deutsche Kultusministerium genannt. Das ist nur leicht übertrieben. Immerhin beansprucht die Stiftung nicht das Machtwort von Politikern, denen bald nicht mehr einfällt als „Ich, Ich, Ich“ zu stammeln. Die Stiftung setzt auf die Kraft der Diskurse und Netzwerke, auf jene Macht von unten, die im englischen „power“ durchklingt. Aber auch wir haben andere Traditionen. Hannah Arendt schrieb: „Macht kommt von mögen.“ Reinhard Kahl
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