: Zum Auftanken an die „Sprinte“
Wenn es Abend wird in Luckenwalde, haben Annett und Doreen, Matthias und Torsten nur ein Ziel: die Tankstelle am Stadtrand. Dort wartet Frau Bubbe auf sie, mit Bier und Brötchen ■ Von Jens Rübsam
Erst haben Bubbes neben den Zapfsäulen ein Holzhäuschen aufgestellt: einen langen Tisch, zwei lange Bänke, ein Dach obendrauf. Dann haben Bubbes im Shop einen braunlackierten Barhocker an den Tisch geschoben, „wenn jemand mal länger bleibt“. Und seit kurzem haben Bubbes zwischen Werkstatt und Waschbox einen Imbißwagen plaziert, daneben einen Tisch und einen Stuhl, darüber haben sie ein weißes Leinentuch gespannt. „Vielleicht“, sagt Frau Bubbe und schaut durch die große Scheibe hinaus ins Neonlicht, es ist früh am Abend, kurz nach halb neun, hinter den bunten Säulen parken sechs Autos in Reih und Glied, dazwischen stehen die Kids, gleich hinter der Tankstelle beginnt Luckenwalde, die brandenburgische Kleinstadt döst längst im Halbschlaf; „vielleicht“, meint also Frau Bubbe, „sind wir ja hier so etwas wie eine Sozialstation.“ So etwas wie ein Auftanklager für halbe Erwachsene, ein Jugendtreff für halbe Kinder.
Kürzlich erst hat Helmut Seitz, Volkswirtschafts-Professor an der Europauniversität Frankfurt (Oder), festgestellt: Die einzige Unterhaltungsmöglichkeit für junge Leute bestehe oftmals darin, mit der Bierdose in der Hand an Tankstellen und auf Parkplätzen von Supermärkten herumzustehen. Es habe sich, schreibt er in seiner Studie „Die Jugend auf der Flucht aus Brandenburg“, eine „Auto- und Tankstellensubkultur“ herausgebildet.
Das wissen Bubbes schon lange. Seit sieben Jahren betreiben sie die „Sprint“-Tankstelle in Luckenwalde. Nachts ein prächtiges Raumschiff, versehentlich gelandet am Rande der Stadt, leuchtend in warmen Farben, Rot, Weiß, Gelb, Orange. Ringsherum dunkle Stille. Gut zwei Kilometer weiter das Stadtzentrum. Mittendrin das „Zebra“, das neue Musik-Café, der letzte Schrei in Luckenwalde. Um acht Uhr abends meist schon voll, so daß denen, die nicht mehr reinkommen, nichts weiter übrigbleibt, als rauszubrettern an die „Sprinte“. Aber da, sagen die Kids, ist es sowieso besser. Die Abende haben ihre Rituale.
Sie parken ihre tiefergelegten Autos möglichst nah am Eingang zum Shop. Sie gehen rein zu Frau Bubbe und kaufen sich was gegen die Langeweile: Büchsenbier für einsfünfzig, Automatenkaffee für eine Mark und Zigaretten.
Doreen, 21, sitzt schon im Shop, auf dem braunlackierten Barhocker. Neben ihr stehen Matthias, 23, ihr Freund, und Annett, 22, ihre Freundin. Doreen schlürft Automatenkaffee, Annett auch, Matthias trinkt Flaschenbier. Alles billiger hier, sagen die Kids. Billiger als im Musik-Café oder in den anderen Kneipen der Stadt. Auch die Snacks kosten nicht viel mehr als ein Liter Benzin. Die „Dicken Langen“ aus dem Warmhaltetopf auf der Theke zweivierzig, die belegten Brötchen aus dem gläsernen Kasten daneben sind auch bezahlbar. 30 Brötchen und 100 Kaffee gehen in einer Nacht raus, sagt Olaf Bubbe, der Chef. Längst verdienen die Tankwarte mehr am Verkauf von Eß- und Trinkwaren als am Benzin. Treibstoff mache nur noch 30 Prozent des Umsatzes aus, vermeldet der Tankstellenverband Berlin-Brandenburg. Pro Liter Benzin bleiben dem Tankwart zwei Pfennig. Da ist es überlebenswichtig, auf Waren und Dienstleistungen zu setzen. Und freundlich zu den Jugendlichen zu sein, die kommen, wenn es Nacht und langweilig wird.
Es ist abends, und es ist langweilig in Luckenwalde, 50 Kilometer südlich von Berlin. Meinen jedenfalls Doreen und Annett und Matthias und die anderen, die sich zwischen den Säulen den Abend in die Beine stehen. Und auch Otto, der eigentlich Christian heißt. Warum ihn alle Otto nennen? „Ist halt so. Kommt vom Vater her.“ Otto lehnt an seinem weißen Wartburg, Baujahr 88, auf dem Dach hat er eine Büchse Jubiläums-Pilsner abgestellt. Er ist hier „zum Zeitvertreib“. Nur die Musik findet er Scheiße. Aus Bubbes Boxen kommen Soft-Songs, Frau Bubbe hat r.s.2 eingestellt, „Super-Oldies und das Beste von heute“. Nichts für Otto. Nichts für Eike, „Eike, wie Eike Immel“. Eike hockt bei Otto im Wartburg und ist normalerweise für den richtigen Sound an der „Sprinte“ zuständig. Hardrock ist der richtige Sound für Brandenburger Abende, die nicht vergehen wollen und nur mit Bier und Kaffee zu ertragen sind. Schade nur, daß Eike heute nicht mit seinem Auto da ist.
Eike holt sich Nachschub. Doreen kauft drei Flaschen Berliner Kindl. Annett kauft Zigaretten. Torsten, ihr Freund, eine Büchse Red Bull. Und Udo, 20, nimmt seine Freundin Annika, 16, in den Arm. „Man trifft sich hier“, sagt Udo. „Man tauscht Neuigkeiten aus“, sagt Annika. „Das ist hier einfach so“, meint Udo und gibt Annika einen Kuß. Annika sagt, daß ihre Eltern wissen, daß sie Kaffeetrinken gefahren ist. So heißt das Abhängen an der „Sprinte“ in Luckenwalde.
Udo und Annika verschwinden zwischen den Zapfsäulen. Steffi und Schumann kommen reingefahren. Drehen eine Runde, lassen die Reifen singen, tauchen wieder ab in die Nacht. Frau Bubbe steht hinter der Kasse und schaut durch die Scheibe. Conny kommt, „der beste Tankwart“, wie ihn Annika vorstellt, „des Jahres“, wie Otto hinzufügt. So richtig lacht keiner über Ottos Witz. Conny hat Nachtschicht an der „Sprinte“.
In Luckenwalde ist es tags nicht aufregender und abends nicht langweiliger als anderswo in Brandenburg. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 20 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit „eher etwas höher“, schätzt Klaus-Ulrich Seifert. Seifert ist in der Stadtverwaltung zuständig für Jugendfragen und findet, daß es eigentlich eine gute Versorgung mit Jugendklubs in Luckenwalde gebe, nämlich drei, und auch eine gute Versorgung mit Diskos, nämlich zwei. Wie anderswo aber auch, schaffe man es nicht, alle Jugendlichen zu erreichen. Daß sich die Kids an der Tankstelle treffen, ist für ihn durchaus ein Phänomen, wenn auch nicht ein typisch ostdeutsches. Seifert ist Westdeutscher und sagt, daß auch er sich, „so mit 15, als ich das erste Mal motorisiert war“, an Orten wie Tankstellen aufgehalten habe.
Alles also ganz normal? Biertrinken an Tankstellen? Essen auf Autositzen? Küssen zwischen Zapfsäulen? „Jenseits der Normalität“ nennt das Professor Helmut Seitz. Entweder laufe bei der Jugend etwas falsch. Oder in der Gesellschaft. Er vermutet letzteres. Besonders in der ostdeutschen Gesellschaft. Seitz kommt aus Westdeutschland, aus Mannheim, „dort habe ich nie gesehen, daß sich Jugendliche lange an Tankstellen aufhalten“.
Eine einfache Erklärung hat der Sprecher der Elf Oil Deutschland GmbH. Im Westen wurden die Tankstellen vor zwanzig Jahren gebaut, teilweise ohne Shops, und wenn mit, dann nicht größer als 40 Quadratmeter. In den neuen Bundesländern wurde nach der Wende rangeklotzt, die Mineralölkonzerne richteten auf 100 Quadratmetern kleine Supermärkte ein. Größer, netter, angenehmer war die Devise. „Wir sind ja eigentlich die Verursacher des Trends, daß Tankstellen zu Jugendtreffs werden“, bekennt der Elf-Oil-Mann.
Wenn Professor Seitz so etwas hört, kann er sich eine lustige Bemerkung nicht verkneifen: „Tankstellen sind das einzige, wo Westdeutschland den Oststandard erst noch erreichen muß.“ Allein damit sei aber das Phänomen nicht zu begründen. In Mannheim beispielsweise, vergleicht der Volkswirtschaftler, gebe es eine lebendige Innenstadt mit Kneipen und Bistros, die von Jugendlichen betrieben würden. Dort seien Getränke und Essen preiswert. Im Osten dagegen seien kaum Geschäftsführer unter 35 Jahren zu finden, seien die Jugendlichen nur Konsumenten und oftmals ohne Aussicht auf einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Wenn nicht mehr für die Jugend getan werde, „sehe ich eine gigantische Belastung auf uns zukommen“. Für das Land Brandenburg hat Seitz die schon einmal ausgemacht: eine schleichende Vergreisung einiger Regionen. 42 Prozent der 15- bis 30jährigen würden aus dem Bundesland wegziehen.
Die Luckenwalder Kids harren unterdessen beharrlich an der „Sprinte“ aus. Doreen erzählt, daß sie gerade in der Ausbildung ist, ob sie später einen Job als Zahntechnikerin bekommt, „das hoffe ich einfach mal“. Matthias ist Maler und hat Arbeit. Annett hat Hotelfachfrau gelernt und ist arbeitslos. Eike ist Maurer und auch arbeitslos, „aber das ist normal im Winter“. Torsten und Udo haben einen Job. Und fast alle haben ein aufgemotztes Auto, vorwiegend einen Golf, „in Luckenwalde ist man mit VW groß geworden“.
Irgendwie sind alle zufrieden mit dem Leben. Sie haben ein Auto, mit dem sie protzen können, auch wenn es nur nachts an der Tanke ist. Sie haben ihre Clique. Ihre Musik. Können sich was zu trinken leisten. Was zu rauchen. „Sehr freundlich und höflich“ seien die jungen Leute, sagt Anne Bubbe, die Frau von der „Sozialstation“. Die meisten kennt sie von früher. Sie war, als die DDR noch nicht abhanden gekommen war, Horterzieherin und Erzieherin in einem Lehrlingswohnheim. Sie nennt die Jugendlichen beim Vornamen, und die Kids sagen zu ihr „Frau Bubbe“. Wenn sie da sind, und sie sind immer da, hat Frau Bubbe „viel weniger Angst“. Nach Schätzungen des deutschen Tankstellen- und Garagengewerbes sind allein 1994 auf 3.000 Tankstellen Überfälle verübt worden.
Es ist kurz vor zehn. Frau Bubbe holt den Zeitungsständer in den Shop. Conny, der beste Tankwart des Jahres, öffnet den Nachtschalter. Peter, der Mann im Imbißwagen zwischen Werkstatt und Waschbox, schließt für heute. Nicht viel los. „Wir testen ja noch, ob so ein Imbiß läuft.“ Noch lassen die Kids den Imbißwagen links liegen. Sie kaufen ihr Bier im Shop, weil's da gemütlicher und wärmer ist – und jetzt, nach zehn, am Nachtschalter kaufen sie es bei Conny. Torsten holt sich ein Wernersgrüner und Annett den nächsten Kaffee. Mathias, der mit dem schwarzen Golf, träumt vom nächsten VW-Rennen. Das findet im Sommer in Luckau statt und ist richtig geil. Die ganze Clique fährt hin. Natürlich. Treffpunkt: die „Sprinte“. Na klar.
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