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Zukunft der PflegeSelbst ist der Greis

Pflege in der Familie ist ein Auslaufmodell in der Leistungsgesellschaft - auch wenn die Politik das nicht wahrhaben will. Gefragt sind neue Betreuungsformen.

Die Alten von heute lassen sich nicht mehr so leicht abspeisen Bild: dpa

Als die rote Sonne bei Capri versunken ist, kehrt nachmittägliche Ruhe in die Wohngemeinschaft im Berliner Stadtteil Kreuzberg ein. Die Musiktherapeutin packt ihre Gitarre ein, die alten Frauen und Männer am Tisch nicken im Nachklang mit den Köpfen, manche nicken auch ein. Die meisten Bewohner haben die 70 überschritten, alle haben große Probleme, sich im Jenseits zurechtzufinden. Sie sind dement - geistig verwirrt - und auf Menschen angewiesen, die aufpassen, dass sie nicht ziellos das Haus verlassen, die sie zur Toilette begleiten und ihnen beim Anziehen helfen; sie brauchen Pflege rund um die Uhr.

4,5 Millionen Menschen in Deutschland werden dauerhaft gepflegt, rund drei Viertel von ihnen zu Hause. Ginge es nach den künftigen Alten, dann sollte das auch so bleiben. Die meisten Deutschen wollen nicht ins Heim, sollten sie einmal pflegebedürftig werden. So steht es im 4. Altenbericht der Bundesregierung. Doch die Bedingungen für den Verbleib in den eigenen vier Wänden werden ungünstiger. Die Zahl der Pflegefälle steigt, zugleich sinkt die Zahl der Kinder. Frauen, die derzeit noch zu 80 Prozent die Pflege Angehöriger übernehmen, sind immer öfter berufstätig. Die Pflegebereitschaft sinkt. Wie das statistische Bundesamt feststellte, stieg die Zahl der Heimunterbringungen im Jahre 2005 um fast 6 Prozent. Wer also soll die Verantwortung für fast 5 Millionen Pflegefälle im Jahr 2050 übernehmen?

Ginge es nach Ramona Coordes, müsste trotzdem niemand ins Heim. Die Altenpflegerin ist hauptamtliches WG-Oberhaupt in Kreuzberg. Nur fünf der zehn Bewohner haben noch Angehörige, die ab und zu vorbeischauen. Coordes und ihr Team vom ambulanten Pflegedienst AHK helfen den WG-Mitgliedern nicht nur, den Alltag zu meistern, sie geben ihnen auch einen Alltag. In der Wohngemeinschaft wird gekocht, Wäsche zusammengelegt, gesungen und spazieren gegangen. "Solche Wohngemeinschaften, das ist die Perspektive", ist Coordes überzeugt.

Die Regierungsparteien wollen hingegen die Familien zur Pflege ermuntern und eine Pflegezeit einführen. Beschäftigten soll sechs Monate lang ein Rückkehrrecht auf ihren alten Arbeitsplatz garantiert werden, wenn sie zwecks Pflege von Verwandten aus dem Beruf aussteigen. So soll die ambulante Pflege gestärkt und Heimunterbringung vermieden werden.

Die Poltik & die Pflegereform

Union und SPD wollen bis zur Sommerpause Mitte Juli Eckpunkte für eine Pflegereform

vorlegen. Am Montag war der Punkt erstmals ein Hauptthema im Koalitionsausschuss.

Es zeichnen sich Verbesserungen zugunsten der Gepflegten ab: So sollen eine Million Demenzkranke künftig Anspruch auf Leistungen aus der Pflegeversicherung haben. Die Sachleistungen für die häusliche Pflege sollen angehoben und den Sätzen für die Heimpflege angenähert werden. Die Pflegedienste sollen erstmals mehr Geld abrechnen dürfen. Das alles könnte etwa 2 bis 3 Milliarden Euro kosten. Sie werden größtenteils von den Versicherten mit höheren Beiträgen erbracht. Eine radikale Finanzreform blockieren die Koalitionspartner mit jeweils entgegengesetzten Vorstellungen.

Beiden Koalitionspartnern ist klar, dass etwas passieren muss. Die Pflegekassen geben bereits seit sechs Jahren mehr aus als sie einnehmen. Derzeit erhalten 2,1 Millionen Menschen Leistungen der Pflegeversicherung, die Bundesregierung rechnet mit doppelt so vielen in 30 Jahren. ALE

Pflegeexperten sind skeptisch. Von einer Pflegezeit profitierten doch wie bei der Elternzeit vor allem Besserverdienende, meint der Freiburger Pflegewissenschaftler Thomas Klie. "Wir müssen die Grammatik der Pflege verändern." Er will die Gepflegten zu Verhandlungsführern im Umgang mit Pflegediensten, Ehrenamtlichen und Kassen ernennen. Mit einem eigenen Pflegebudget und begleitet durch persönliche Fallbetreuer, sollen sie sich ihre Leistungen nach Bedarf zusammenkaufen. Dabei sollen ehrenamtliche mit professionellen PflegerInnen konkurrieren. Professionelle Pflegedienste fürchten einen Dumpingwettbewerb zu ihren Ungunsten und haben deshalb schon zu Demonstrationen gegen Klies Modell aufgerufen. Doch der bleibt dabei: "Wir brauchen den Einstieg in eine kollektive Verantwortung für Pflegebedürftige." Das müsse auch in die Unternehmen hineingetragen werden.

Das Modell "Familie plus"

Die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege spiele bisher kaum eine Rolle in den Firmen, stellt die Unternehmensberatung Prognos AG fest. Dabei seien heute bereits 23 Prozent der Hauptpflegepersonen gleichzeitig berufstätig, knapp die Hälfte davon arbeite sogar Vollzeit. Bei der Firmengruppe Comet Computer, einem mittelständischen Unternehmen in München, verzichtet man dagegen schon seit der Gründung vor 20 Jahren auf starre Kernarbeitszeiten. 75 Mitarbeiter sind im Unternehmen beschäftigt, aktuell pflegen zwei davon neben der Arbeit Angehörige. "Wir versuchen, unsere Mitarbeiter individuell freizustellen, von 7 bis 40 Stunden sind alle Arbeitszeitmodelle möglich", sagt Personalleiterin Ann Krombholz. Der organisatorische Aufwand sei nicht zu unterschätzen: "Aber letztendlich überwiegen die Vorteile." Die Mitarbeiter seien zufriedener, dafür spreche auch die geringe Fluktuation.

"Wir müssen über die Familie hinausgehen." Für den ehemaligen Heimleiter Klaus Dörner ist seit langem klar, dass es neue Wege zwischen Heim und Daheim geben muss. Als Leiter der Westfälischen Klinik für Psychiatrie brachte er in den 80er- und 90er-Jahren alle Insassen in betreuten Wohngruppen unter. "Das waren Menschen, die eigentlich lebenslang weggeschlossen waren." Für alte und bettlägerige Menschen schwebt ihm eine ähnliche Reintegration in die Gesellschaft vor - ermöglicht durch die Gesellschaft selbst. Dörner sieht eine neue soziale Bürgerbewegung wachsen.

Martin Fleischmann knüpft solche Netze, die die künftigen Greise einmal tragen sollen. Als Angestellter des Vereins community care überzeugt er Wohnungsbaugesellschaften davon, eine Sozialarbeiterin zu engagieren, die Kontakte zwischen Nachbarn herstellt. Denn: "Wir haben die Erfahrung gemacht: Die Leute helfen sich, wenn sie sich kennen." Drei Wohnungsbaugesellschaften haben sich auf den Deal mit community care bereits eingelassen, denn auch sie profitieren davon, wenn ihre Mieter länger zu Hause wohnen.

Auch der Vater von Barbara Lonsdorf wohnte trotz Parkinson weiter in seiner Wohnung. Doch nach einer Medikamentenumstellung baute er rasant ab, fing an zu halluzinieren, konnte kaum noch gehen. Die Tochter zog für zwei Wochen zu ihm und pflegte ihn. "Es ist schwierig, zusätzlich zu dieser Belastung noch die richtigen Entscheidungen zu treffen. Man weiß am Anfang ja überhaupt nicht, welche Schritte man gehen muss, welche Ämter man einschalten muss." Schließlich fand Lonsdorf einen Platz im Altenheim, wo der 80-Jährige seit gut einem Jahr lebt. "Er hat sich damit arrangiert."

Angehörige durch das System "Pflegeversicherung" zu lotsen ist die Aufgabe von Martin Kamps. Seit über zehn Jahren arbeitet er im nordrhein-westfälischen Ahlen als case manager, als Fallbegleiter. Seine Stelle wird als Modellvorhaben von den Pflegekassen finanziert. Bekommt Kamps einen Anruf vom Krankenhaus, dass die alte Dame mit verheiltem Oberschenkelbruch, aber fortschreitender Demenz demnächst entlassen wird, hilft er den Verwandten dabei, eine Pflegestufe zu beantragen, und berät mit ihnen, welche Umbauten im Haus nötig sind.

So entlastet Kamps die Angehörigen und lehrt sie gleichzeitig, die verschiedenen Instrumente des Pflegesystems zu handhaben. Wie er findet, bietet die Pflegeversicherung viele Möglichkeiten, die nicht ausgereizt sind. "Ehe man neue schafft, sollte man die schon bestehenden nutzen", meint Kamps zur Reformdebatte.

Es komme darauf an, alle Akteure zu einem Bürger-Profi-Pflegemix zu verknüpfen, meint der ehemalige Heimleiter Klaus Dörner. Von seinen einstigen Schützlingen hat er gelernt: Nachdem sie eine Weile in betreuten Wohngruppen lebten, hatten die meisten den Wunsch, in eigenen vier Wänden zu wohnen. "Wir müssen die Hilfe nach Hause bringen." Das sei die Zukunft.

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