Zu wenig Hartz IV: Es geht nicht nur um die Kinder
Drei Familien sind vor das Bundesverfassungsgericht gezogen, weil die Grundsicherung nicht reicht. Die Richter nahmen das zum Anlass, über einen neuen Bewertungsmaßstab nachzudenken.
KARLSRUHE taz | "Ich hätte mir für die Verhandlung gerne einen anständigen Anzug gekauft, aber wovon soll ich dann mein Kind satt bekommen?" Kläger Thomas Kallay schildert knapp das Dilemma eines Hartz-IV-Beziehers. Am Bundesverfassungsgericht wurde am Dienstag verhandelt, ob die Hartz-IV-Sätze und ihr Zustandekommen mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Dabei ging es – entgegen der allgemeinen Erwartung – nicht nur um das Sozialgeld für Kinder, sondern ganz grundsätzlich auch um das Arbeitslosengeld 2 (ALG 2) für Erwachsene. Mit Änderungen ist wohl zu rechnen.
Ausgelöst wurde das Verfahren durch drei Familien aus Bayern, Nordrhein-Westfalen und Hessen. Anwesend war aber nur Thomas Kallay aus Eschwege (Nordhessen), ein erwerbsloser Journalist, der sich ehrenamtlich in Sozial-Initiativen engagiert. Mit seiner Frau und seiner 15-jährigen Tochter lebt er von insgesamt 825 Euro Hartz IV.
Das Landessozialgericht (LSG) Hessen nahm den Fall zum Anlass, die Höhe der Hartz-IV-Sätze in Frage zu stellen. Vorsitzender Richter am LSG war Jürgen Borchert, ein bekannter Sozial-Aktivist. In den beiden übrigen Fällen, die das Bundessozialgericht vorgelegt hatte, ging es dagegen nur darum, wie die Bedarfssätze für Kinder von Hartz-IV-Familien berechnet werden.
"Grundsicherung für Arbeitssuchende" - bekannter als Hartz IV, trat Anfang 2005 in Kraft. 359 Euro erhalten alleinstehende Erwachsene seitdem monatlich als Regelleistung, mit der Ernährung, Kleidung, Hausrat etc. abgedeckt werden sollen, das Wohnen wird extra bezahlt. Leben Erwachsene zusammen, erhalten sie 90 Prozent.
Kinder und Jugendliche - erhalten derzeit gestaffelte Leistungen (bis 6 Jahre 60 Prozent vom Regelsatz; bis 14 Jahre 70 Prozent, darüber 80 Prozent), das Kindergeld wird damit verrechnet.
Die Gesamtkosten - Anfang 2009 bezogen mehr als 6,5 Millionen Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende, Kinder und Berufstätige, deren Einkommen nicht reicht, Hartz-IV-Leistungen. Die Hoffnung der damaligen rot-grünen Bundesregierung, mit Hartz IV die Ausgaben zu reduzieren, hat sich nicht erfüllt. Die Kommunen erwarten 2010 Hartz-IV-Ausgaben von ca. 42 Milliarden Euro und damit deutlich mehr als vor der Reform.
Für die Bundesregierung erläuterte Sozialstaatsekretär Detlef Scheele (SPD), dass bis 1989 der Sozialhilfesatz nach einem von Experten festgelegten Warenkorb berechnet wurde. Da aber kein Konsens mehr herzustellen war, was in den Korb gehöre, gilt als Maßstab seitdem die Einkommens- und Verbrauchsstudie (EVS) des Statistischen Bundesamts. Hier wird alle fünf Jahre anhand von 75.000 repräsentativen Haushalten untersucht, was die Deutschen tatsächlich konsumieren.
Der Hartz-IV-Satz für einen Erwachsenen bemisst sich danach, was die ärmsten 20 Prozent der nicht ALG 2 beziehenden Single-Haushalte konsumieren. Allerdings werden viele Abzüge gemacht, die die Regierung nur teilweise erklären konnte. Umstritten war in Karlsruhe aber auch grundsätzlich, ob die Vergleichsgruppe, die kein Hartz IV bezieht, überhaupt ein geeigneter Maßstab für die Definition des Existenzminimums ist. So fragte Verfassungsrichter Johannes Masing, ob ein niedriges Einkommen heute das Existenzminimum decken könne, solange es keine Mindestlöhne gebe.
Die Richter wollen die Hartz-IV-Sätze vor allem an Artikel 1 des Grundgesetzes messen, der die Würde des Menschen garantiert. Das kündigte am Dienstag Hans-Jürgen Papier an, der Präsident des Gerichts. Wenn die Richter nicht generell höhere Sätze oder ein anderes Verfahren verlangen, so dürfte wohl zumindest eine "Öffnungsklausel" verlangt werden. Hilfsbezieher, die mit dem schmalen Hartz-IV-Budget nicht zurechtkommen, könnten dann in extremen Fällen ausnahmsweise einen individuellen Zuschlag verlangen. Dies forderte jedenfalls Anwalt Peter Schmitz und wurde dabei von mehreren Verfassungsrichtern unterstützt.
Als Beispiele nannte Caritas-Generalsekretär Georg Cremer einen Aidskranken, der vom Hartz-IV-Satz teure Medikamente kaufen müsse, die die Krankenkasse nicht zahle, oder jemand, der bei der Kleidung Übergrößen benötige. Da schaltete sich der rührige Kläger Thomas Kallay ein und schilderte seine Probleme als Mann mit zwei Metern Körpergröße, 150 Kilo Gewicht und Schuhgröße 48.
Stephan Rixen, der Rechtsvertreter der Bundesregierung, protestierte nicht nachdrücklich gegen eine Öffnungsklausel. Nach seiner Darstellung gibt es heute in derartigen Fällen aber oft schon Darlehen, die gelegentlich auch erlassen würden. Eine Öffnungsklausel dürfe auch nicht zu weit gehen, mahnte Rixen und führte an, "Menschenwürde hat auch mit Eigenverantwortung zu tun". Die Idee der Hartz-IV-Pauschalen sei schließlich gewesen, dass die Leistungsempfänger selbst auf größere Anschaffungen sparen sollen und nicht mehr bei jedem Sonderbedarf beim Sozialamt Anträge stellen müssen.
Soweit bislang bekannt sollte es am Dienstag vor allem um die Höhe des Sozialgelds für Kinder gehen. Deren Sätze wurden einfach vom ALG 2 der Erwachsenen abgeleitet. Kinder bis 14 Jahre erhielten zunächst 60 Prozent von 345 Euro, also 207 Euro. Für Jugendliche bis 18 gab es 80 Prozent.
Inzwischen hat die Bundesregierung auf die Kritik reagiert, dass dies zu schematisch sei. Sie nahm eine Sonderauswertung der EVS-Studie vor, die ergab, dass die Sätze überwiegend bedarfsgerecht, teilweise sogar einige Euro zu hoch sind. "Damit haben wir erstmals einen kindspezifischen Bedarf ermittelt", sagte Staatsekretär Scheele.
Seit Juli hat die große Koalition zudem die Sätze für 6- bis 13-jährige Schulkinder auf 70 Prozent (derzeit 251 Euro) erhöht. Außerdem bekommen Hartz-IV-Schulkinder jetzt jährlich 100 Euro für Schulbedarf extra. Damit hat der Bundestag vermutlich eine Verurteilung zur Erhöhung der Sätze vermieden. Möglicherweise wird es aber auch hier eine Öffnungsklausel für außergewöhnliche Situationen geben. Das Urteil soll in einigen Monaten verkündet werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP