Zu Besuch in Guantánamo: Liebevolle Orte mit miesem Image
Guantánamo ist nicht nur ein Gefangenenlager, sondern auch ein kubanisches Städtchen. Ein Zuhause für viele aus der englischsprachigen Karibik.
Vor fast zehn Jahren hat es mich zum ersten Mal nach Kuba verschlagen. Ohne Plan, nur mit ein paar lausigen Brocken Spanisch. Und weil Orte mit einem miesen Image seit jeher eine unwiderstehliche Anziehung auf mich ausüben, landete ich auch in Guantánamo – einer freundlichen, eher ereignisarmen Stadt, knappe 15 Kilometer und dabei Lichtjahre von Guantanamo Bay entfernt.
Mitten im Zentrum gemahnte eine Landkarte an das nach wie vor „von den Amerikanern widerrechtlich okkupierte Gebiet“. Dort lief ich auf der Straße einer Kubanerin zu, die gerade kurz davor war, in Deutschland einzuheiraten und mich begeistert über die BRD befragte. Ich müsse mal ihr Viertel kennenlernen, beschloss sie, und schleppte mich mit zu ihren Nachbarn, ihren Freunden und ihrer Familie. Ich wurde rumgereicht, alle wollten die alemana mal besichtigen, denn Touristen sind bis heute in Guantánamo eher eine Seltenheit. Ich saß in unzähligen, liebevoll dekorierten Wohnzimmern im knarzenden Schaukelstuhl bei Kaffee mit Milchpulver und plauderte radebrechend mit Hundertjährigen, den klapprigen Ventilator exklusiv an mich herangerückt.
Und so ist es bis heute geblieben. Sobald ich ein bisschen Geld für ein Flugticket zusammenkratzen kann, sehe ich zu, dass ich schnell wieder nach Guantánamo komme. Ich wohne dort bei meiner Freundin Lisset, der Königin von Guantánamo, die jeden kennt und alles klarmachen kann. Wenn sie gut drauf ist, holt sie uns Bier, und wir blättern gemeinsam in einem Quelle-Katalog von 1999, den sie hütet wie eine Hausbibel.
Lissets Familie kam Anfang des 20. Jahrhunderts von Jamaika nach Kuba. Die Amerikaner, die gerade dabei waren, in der Bucht von Guantánamo eine Marine-Base zu errichten, warben verstärkt um Arbeitskräfte aus der englischsprachigen Karibik. Und so gibt es bis heute kaum eine Familie in Guantánamo, von denen nicht mindestens ein Vorfahr dort gearbeitet hat. Bezahlt wurde in US-Dollar, die man damals noch bei einer kubanischen Bank tauschen konnte. Auch die Großeltern meiner Freundin Daysi – er aus Jamaika, sie aus Barbados – lernten sich in einem Shop auf der Base kennen, in dem Daysis Großmutter als Verkäuferin arbeitete und der Großvater als Mechaniker. Daysis Mutter wurde auf Kuba geboren und so sind sie eben geblieben, wie so viele hier. Der letzte Arbeiter auf der Base, Harry Henry Knight, ist übrigens erst 2014 in Rente gegangen. Er war der Einzige, der das hochgesicherte Areal, auf dem schon fleißig gefoltert wurde, überhaupt noch betreten durfte, um die monatlichen Rentenschecks für seine alten Kollegen abzuholen.
Und im Hintergrund läuft Bob Marley
Im Jahr 1945 wurde das British West Indian Welfare Center in Guantánamo gegründet, als einziger Einwandererselbsthilfeverein auf ganz Kuba. „Schwarze Menschen kamen in ein Land, in dem vorwiegend Weiße lebten. Sie bekamen oft grundlos Ärger mit der Polizei und beschlossen, sich zusammenzutun, sich Hilfe von Anwälten zu suchen, Spanisch zu lernen und gleichzeitig einen Ort zu schaffen, an dem sie weiterhin ihre englische Sprache sprechen konnten. Ein Zuhause im fremden Land.“ Das erzählte mir Jorge Derrick Henry, der Präsident des Welfare Center, wo ich an meinem allerersten Tag in Guantánamo auch noch gelandet war. Die Flaggen der vielen kleinen Westindiestaaten hängen dort immer noch welk an den Wänden, während im Hintergrund Bob Marley aus dem CD-Player scheppert.
Nach wie vor ist täglich geöffnet, man schaut mal rein, plaudert ein bisschen – und dort bin ich auch all denen begegnet, die inzwischen längst Freunde geworden sind: Yito, der melancholische Bach-Liebhaber, der das örtliche Museum leitet, in dem sogar die Raumkapsel des ersten schwarzen Kosmonauten, Arnaldo Tamayo Mendez, zu besichtigen ist. Onil, ein begnadeter Karikaturist, der mal in der Kricket-Nationalmannschaft gespielt hat. Ramona, die mit ein paar Rum in der Blutbahn noch herzzerreißender singen kann als Billie Holiday. Und Bessie und Derrick, beide Englischprofessoren an der medizinischen Fakultät von Guantánamo, die die zukünftigen Ärzte für ihre Auslandseinsätze sprachlich in Form bringen. Feine, kluge Menschen, mit denen es eine Freude ist, sich über die Welt auszutauschen. Oder auch mal über die Eckbänke im Quelle-Katalog.
Während der Pandemie brach die Wirtschaft auf Kuba fast zusammen. Aber alleine dieses kubanische „fast“ ist immer wieder ein Wunder. Es ist ja keinesfalls so, dass auf Kuba Mangel herrscht, weil man dort wirtschaftlich nichts auf die Reihe bekäme – im Gegenteil: Ich kenne kein Land, in dem so viel mit so wenigen Mitteln funktioniert. Und der Staat lässt sich seine Fürsorge ganz schön was kosten. Gesundheitsversorgung gibt’s gratis, kaum jemand ist obdachlos, und jeder Staatsbürger bekommt mit der „Libreta“ monatlich eine Grundausstattung an Lebensmitteln. Trotz aller Widrigkeiten überwiegt der Stolz der meisten Kubaner, dem Mangel eine wacklige, selbst gebastelte Autonomie abgetrotzt zu haben.
Die Lage ist unübersichtlich
Ich war zufällig auch auf Kuba, kurz nachdem Fidel gestorben war. Und die Leute waren traurig. Echt und ehrlich traurig. Nicht verordnet, nicht erzwungen, und obwohl Fidel erklärt hatte, er wünsche keinen Kult um seine Person, hingen in manchen Hauseingängen fast verschämt kleine Porträts von ihm und blichen in der Sonne, bis er nur noch als Geistererscheinung zu erkennen war. Das Bildungssystem auf Kuba funktioniert zuverlässig, und die Kindersterblichkeit ist so niedrig wie sonst kaum irgendwo. Nach wie vor sind kubanische Ärzte die ersten in sämtlichen Krisengebieten dieser Welt. Und im vergangenen Jahr hat Kuba, von der Weltöffentlichkeit fast unbemerkt, gleich zwei eigene Impfstoffe entwickelt –Abdala und Soberana, die ziemlich gut zu funktionieren scheinen, was inzwischen auch das Deutsche Ärzteblatt schreibt.
Was die Proteste zurzeit angeht: Die Lage ist unübersichtlich und alles andere als leicht zu durchblicken. Ich höre verschiedenste Einschätzungen der Lage – von einem linientreuen „Wird alles von der CIA und den Exilkubanern in Miami gesteuert“ bis hin zu einem adenaueresken „Gebt dem geknechteten Kuba endlich seine Freiheit“ ist alles dabei. Wenn man dabei das allzu ideologische Raunen mal kurz wegdimmt, bleibt der Eindruck, dass gegen eine denkbar unglückliche Gemengelage aus inzwischen 60 Jahren andauerndem US-Wirtschaftsembargo, das Joe Biden übrigens unvermindert weiterbetreibt, dem Zusammenbruch Venezuelas und den damit fehlenden Lieferungen von verbilligtem Öl, und obendrauf auch noch Corona, das den Wirtschaftsfaktor Tourismus für ein Jahr ins tiefste Koma versetzt hat, schwer zu demonstrieren ist.
Kann man natürlich machen, aber davon kommt auch nicht mehr Sprit in den Tank und auch kein Hühnchen auf den Teller. Über Meinungs- und Pressefreiheit sollte man dagegen ruhig mal reden, aber das ist eben eine ganz andere Diskussion. Zöge man Kuba die sozialistische Kuscheldecke weg, bliebe innerhalb kürzester Zeit nur noch ein Land, in dem man mit Siebzig keine Zähne mehr hat, weil man Ersatz nicht bezahlen kann, und selbst zusehen muss, wo man eine Bleibe und eine warme Mahlzeit herbekommt.
Outet man sich in Deutschland als Kuba prinzipiell Wohlgesinnte, landet man nach wie vor meist in der muffligen DKP-Tanten-Ecke und erntet immer noch erstaunliche Reaktionen: „Das ist da doch total unfrei, oder?“ Und das gerne mal von Menschen, die keine Sekunde darüber nachdenken, in welchen Schurkenstaaten sie zuletzt geurlaubt haben – oder eben allein das unbegrenzte Wachstum der Märkte für Freiheit halten. Umgekehrt ist man auch in Guantánamo gleichermaßen überrascht, dass die wenigen Besucher immer gleich so dringlich über den Sozialismus debattieren müssen. Was soll man auch sagen? Ist noch Luft nach oben, aber geht schon.
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