Zu Besuch bei einer Schaustellerfamilie: "Wir sind freie Menschen"

In Berlin gastiert der Schaustellerbetrieb "Schmidt's Kinderland". Die Geschichte der Familie Schmidt von ihrer Zirkuszeit im Krieg über die Zwangsverstaatlichung der DDR bis heute.

Drei Generationen einer Schaustellerfamilie: vorne die Seniorchefs Marianne und Horst Frank mit Sandy Schmidt, dahinter deren Mann Freddy und Töchter. Bild: Elisabeth Kmölniger

Im Gewerbegebiet Berlin Teltow gastiert der Schaustellerbetrieb "Schmidt's Kinderland". Auf einem unbebauten Grundstücke unter alten Bäumen sind ein paar Karussells und anderen Lustbarkeiten aufgebaut, in Erwartung der Familien, die hier einkaufen. Vis-à-vis, auf dem ehemaligen Todesstreifen der Grenzanlage nach Westberlin, stehen gut besuchte Baumärkte, ein Einkaufszentrum, der Getränkemarkt.

Die junge Frau Schmidt sitzt im Kassenhäuschen am Eingang. Es herrscht schon einiger Betrieb. Geöffnet ist wochentags von 14-19 Uhr, am Wochenende ab 11 Uhr. Der Eintritt kostet für Erwachsene 2,50 Euro, Kinder zahlen 5 Euro, dafür, so ein Schild, sind alle Karussells, Trampolin, Hüpfburg und Kinderschminken frei. Der Weg ins Paradies steht offen. Im Süßwarenstand hängen dicht gedrängt Lebkuchenherzen mit Liebesschwüren beschriftet von der Decke, und es locken all die üblichen Jahrmarktschleckereien, von der Zuckerwatte bis hin zu glasierten Äpfeln. Nebenan betreibt der Juniorchef seinen Grillstand. Unter einem Zeltdach werden die Kinder von den Töchtern des Hauses liebevoll geschminkt. Mit Katzengesichtern und schönen Ornamenten auf den Wangen klettern sie in die Karussells und winken.

Hier geht es beschaulich und gemächlich zu. Nichts ist virtuell, nichts brüllt, nichts rast. Dafür sind die Umdrehungen zahlreich. Es erzeugt durchaus kleine Räusche und Verwirrungen der Sinne, wenn man mit der Kindereisenbahn immer wieder an den Eltern und an einem rotweiß gestrichenen Lattenzaun vorbeikommt. Gern steigen die Kleinen auch in Abschleppwagen, Sportwagen, Lastwagen oder Jeep, wo sie am Lenker schalten und walten können nach Belieben. Dass unten alles sicher auf Schienen läuft, ist nicht zu sehen. Für die größeren Kinder gibt es allerdings ein Vergnügen mit altersgerechtem Nervenkitzel: das Spyder-Raketenflug-Karussell, das sie hydraulisch in die Lüfte hebt, spürbar beschleunigt und in die Sitze drückt.

Fein gezeichnete Erinnerungen

An solchen Orten entstehen fein gezeichnete Erinnerungen. Vom Backwagen her verbreitet sich ein verführerischer Duft nach frischen Kräppelchen und Quarkkeulchen übers Gelände. Etwas abseits liegen die Zwergziegen und Kaninchen in ihrem Freigehege auf frischem Stroh. Hier steht ein leicht zu übersehendes Schmuckstück, ein altmodisches gelbes Kettenkarussell, an dem ehemals wahrscheinlich Schwanengondeln hingen. Es ist kunstvoll mit Landschaftsszenen bemalt. Einiges wurde ausgetauscht, die Sitze und Gondeln sind aus DDR-Zeiten. Aber wie schon vor 80 Jahren drehen sich die Kinder still im Kreis und halten sich an den Ketten fest.

Wer die inklusiven Angebote durchhat und noch etwas Geld in der Hand, der kann aus einem Automaten, voll mit Monstern und Plüschtieren, eines herauszuholen mit dem Greifarm. Einige Mädchen in Rosa jedoch versprechen sich mehr von einem Los. Erwartungsvoll stehen sie am kleinen Loswagen, der vor Gewinnen schier zu bersten scheint, und studieren das Angebot. Der Seniorchef trägt seine Basketballmütze leicht schräg, hat einen gelben Kuli in der Hemdtasche und ruft streng: "Jedes Los gewinnt!" Sie reichen ihr Geldstück. Und tatsächlich, jede gewinnt. Der große Stofftiger allerdings, einer der Hauptgewinne, bleibt im Regal sitzen. Diese Stätte der Vergnügung ist wie eine Fata Morgana. Nächste Woche ist sie weg, der belebte Platz wird leer sein, als wäre nie etwas gewesen. Über die Menschen, die das Spielwerk in Szene setzen, ist so gut wie nichts bekannt.

Die Familie Schmidt ist bereit, uns zu erzählen, wie sie lebt und überlebt. Man empfängt uns im Wohnwagen des Juniorchefs, den er selbst gebaut und ausgebaut hat, samt dem zusammenschiebbaren Erker. Wir erfahren, dass man durch diese geniale Lösung viel weniger Zeit braucht beim Auf- und Abbauen als früher. Alles ist genau berechnet und ausgemessen. Man schiebt zum Beispiel die Wohnstube einfach in die Küche, fixiert alles und fertig. Weil ja überall Lkws drunter sind, kann man sofort losfahren.

Funkelnde Einbauküche

Im geräumigen Wohnzimmer, das zugleich eine moderne Einbauküche hat, funkelt und blitzt alles vor Sauberkeit. Die Frau des Juniorchefs, Sandy Schmidt, ist 36 Jahre alt und Mutter zweier Töchter. Ihre Älteste, Jessica, 1991 geboren, erzählt, dass ein Schaustellerkind mindestens 30-mal im Jahr die Schule wechselt und trotzdem keine Probleme haben muss mit den Noten.

Sandy verteilt Kaffee und sagt, dass ihr Mann noch mit dem Lastwagen unterwegs sei. Auch ihr Vater, der Seniorchef, Horst Frank, ist unterwegs. "So ist das", sagt ihre Mutter, "wir Frauen machen den Haushalt und die Männer müssen draußen schuften." Marianne Frank, Jahrgang 1937, hat 4 Kinder geboren und ist die Seniorchefin. Sandy fügt hinzu: "Wir machen den Haushalt und das Schriftliche, Rechnungen und Abrechnungen, Anträge, das machen auch wir, die Frauen." Rosita bemerkt seufzend: "Wenigstens wir Frauen sitzen pünktlich hier." Sie ist die Schwester des Juniorchefs, 44 Jahre alt, Mutter zweier Kinder, und hat ihre Fahrgeschäfte mit denen des Bruders vorübergehend zusammengelegt.

"Wir kommen vom Zirkus"

Draußen auf der Treppe nähern sich schwere Schritte. "Das isser!", ruft die Seniorchefin. Horst Frank kommt herein, begrüßt uns mit festem Handschlag, nimmt Platz und trinkt einen Schluck. Alle schweigen. Es scheint klar zu sein, dass nun ihm das Wort überlassen wird. Er räuspert sich und beginnt: "Ich bin geboren in einem Wohnwagen und aufgewachsen in einem Wohnwagen. Bin Jahrgang 32, nun schon 79, und ich bin mein Leben lang gefahren.

Wir kommen ja eigentlich vom Zirkus her, meine Frau und ich. Wir waren Artisten, unsere Eltern waren Artisten, die Großeltern und Urgroßeltern waren Artisten, und immer so weiter. Schausteller sind wir erst später geworden, davon erzähle ich noch. Meine Frau ist vom Zirkus Alberti, ein bekannter Zirkus, der war ansässig in Drewitz bei Potsdam. Ein Viermastenzirkus, großes Chapiteau, man zeigte viele Tierdressuren, Raubtiernummern, die Söhne arbeiteten mit Pferden, es war für alles gesorgt.

Ihr Vater war Karl Schmidt, der Chef. Mein Vater und ihre Mutter, die waren Geschwister. Das war damals so und ist heute immer noch so, dass man untereinander bleibt. Mein Vater ist auch herumgereist, mit seinem eigenen Zirkus, in Schlesien. Wir hießen Frank. Mein Vater hatte 25 Pferde und einen Hirsch. Einen Zwölfender. Er ist gesprungen bei uns übers Kamel. Der musste in der Hitlerzeit getötet werden, weil, der durfte nicht im Wanderzirkus sein.

Bären hatten wir auch. Wir sind herumgefahren im Wagen, wie die Zigeuner, so ungefähr. Die Zigeuner waren aber Bärentreiber. Hatten ihre Bären am Wagen angebunden, da mussten sie mitlaufen. Wir hatten unsere Bären im Wagen drin, in so einem Zirkuswagen, im Käfig. Dann hatten wir Hunde, die sind geritten. Das Zelt war 20 Meter, da gingen so um 300 Menschen rein.

Wir waren alle Artisten und Akrobaten, und wir haben auch noch zugepackt. Bei meinem Vater mussten wir alles machen. 12 Geschwister hatte ich. Zwei waren herzkrank und sind später gestorben. Die Mädchen haben Trapezarbeit gemacht. Man musste die Pferde ranholen und sehen, dass alles klappt. Die Drehorgel habe ich am schlechtesten gespielt, ich konnte den Takt nicht halten. Musik haben wir auch noch gemacht mit dem Trichter-Grammofon. Im Krieg war ich so 12. Wir sind auch im Krieg noch gefahren. Abends mussten wir ,Verdunkelung' machen. Die Lampen im Zelt durften nur nach unten leuchten. Das Futter wurde oft knapp. Wir sind immer zum Bauern hingefahren um Futter. Das Getreide hat auf dem Feld gestanden in Puppen, als Garben. Wir haben manchmal die Garben bekommen im Tausch gegen Zirkuskarten.

Zum Schluss durften wir ja nicht mehr reisen. Die ältesten Brüder waren eingezogen als Soldat. Der Vater war auch reklamiert von der Wehrmacht und musste fahren. Damit konnten wir dann das Viehzeug ernähren. Damals haben wir in Vetschau gestanden, da war der große Heeresbetrieb und dem mussten wir drei Gespanne überlassen. Ein Gespann, das sind zwei Pferde. Die haben gezogen. Die Funkerwagen und vom Krieg das ganze Zeug. Und zum Ende hin musste ich dann auch hin und hab mit den Ponys Panzerfäuste gefahren, zu den jungen Pimpfen, für das letzte Aufgebot.

Als "fahrendes Volk" schief angesehen

Viele haben uns immer schief angeguckt. Es hieß: Alles, was rumfährt, sind Zigeuner. Fahrendes Volk! In Vetschau waren ja auch viele Geschäfte und Kaufhäuser, die den Juden gehört haben. Die wurden in Beschlag genommen. Hitler hat die Juden verfolgt und ins KZ gebracht. Und die Fahrenden wurden auch von Hitler verfolgt. Die Zigeuner. Wenn meine Mutter nicht hätte die ganzen arischen Abstammungen vorlegen können und alles, dann hätten die uns auch weggebracht. Und wie dann die Russen näher kamen, das war ein Durcheinander damals! Alles wurde Soldat, alles ist geflüchtet. Zum Flüchten hätten wir unsere Pferde gebraucht, aber die waren im Heeresbetrieb.

Wir sind dann mit einem Gespann und den Ponys bei Nacht und Nebel davon. Nur mit unseren Wohnwagen und dem Viehzeug, alles andere haben wir stehen lassen. Wir wollten nach Torgau, sind aber nur bis Polzen bei Herzberg an der Elster gekommen. Es waren dauernd Tieffliegerangriffe. Wir haben ein altes Ehepaar mitgenommen aus Vetschau. Der Mann hat uns gezeigt, wie wir uns verstecken sollen. Die erste Salve hat er abgekriegt und war gleich tot. Die Pferde sind durchgegangen quer übers Feld. Die mussten wir später erst wieder einsammeln.

Dort saßen wir also fest, dann kam der Umschwung, wo die Russen und alles reinkamen. Meine Mutter hat gerade draußen neben dem Wagen Wäsche aufgehängt, da kamen sie vorbei, die Russen. Zu uns waren sie freundlich. Einer im Ort hatte das Kommando, Micha. Michel haben wir gesagt. Der war schon vorher da, hatte auf dem Rittergut gearbeitet, ein Weißrusse. Er kannte uns alle.

Zuerst wurde der Ortsbauernführer rausgeholt, an sein Tor gestellt und erschossen. Der Micha, der konnte auch Deutsch. Er hat mir gleich das Haus geschenkt. Ich war 13 und im Moment der Älteste. Zu mir hat er gesagt: Pass auf, du fährst mir die Milch mit deinen Pferden jeden Morgen nach Herzberg, zum Stützpunkt 3. Das habe ich gemacht, und da war manchmal kaum ein Durchkommen, weil die Flüchtlingstrecks aus Polen mit ihren Leiterwägen alles verstopft haben.

Dann kam der Vater wieder. Wir konnten gleich auf dem Schützenhausplatz in Herzberg aufbauen. Wir hatten ja nichts, aber der Bürgermeister hat eine Anweisung bekommen, er soll uns vom Tischler eine Manege bauen lassen. Und dann haben wir vor den Russen gespielt. Eine ganze Weile. Danach sind wir weitergezogen, wieder auf Reisen gegangen. Das Geld war immer knapp. Sehr knapp!

"Sie wollten alles Private weghaben"

1945/46 war die Bodenreform. Wir haben uns wieder aufgerappelt. Meine Mutter hat im Winter in den Kulturhäusern Theater gespielt, schöne Komödien, hat die Leute auch erfreut, und anschließend gab's Tanzmusik. Davon wurde das Viehzeug ernährt. Mitte der 50er Jahre kam dann die LPG, die Bauern mussten alle da rein. Also sie wollten das Private weghaben. Auch uns.

Da kam zu meinem Vater das Finanzamt von Straußberg und hat geschrieben, Steuerschulden! Mein Vater wollte Pferde verkaufen zum Bezahlen, aber die Bauern haben ja nichts mehr gekauft, mussten ja alles abgeben. Er hat dann über das Vermittlungskontor Pferde verkauft. Die haben einen Schätzer gehabt. Unsere Pferde waren gut, dressiert und alles, aber das zählte ja nicht. Dann haben wir das Geld geschickt ans Finanzamt.

Aber es gab keine Ruhe. 52 ist die Mutter gestorben in Wittenberg. Der Vater war in Haft, dann kam der 17. Juni 53. Er wurde freigelassen, damit die vom Aufstand eingesperrt werden konnten in die Zellen. Er ist gleich abgehauen. Hat seinen jüngsten Sohn mitgenommen und eine Schwester und den Schwager. Sie hatte immer die Buchführung gemacht. Die sind nach Berlin rein. Nur Reste vom Zirkus waren übrig und ich habe in Teltow noch ein Pferd verkauft, weil der Vater kein Geld mehr hatte. Später wurde er dann totgefahren drüben. Ist auf der Straße gegangen und hat einen Sack Holz getragen. Sogar von einem Arzt wurde er überfahren. Den Jüngsten haben wir dann wieder zurückgeholt bei der Beerdigung. Ich war ja geblieben, mit meinen drei Brüdern und einer Cousine.

Immer Kohldampf

Immer Kohldampf. An unreifem Obst habe ich mich schier vergiftet. Einmal sagte jemand: ,Habt ihr denn überhaupt genug zu essen beim Zirkus?' Und ich: ,Wissense, wir scheißen fetter, als wie Sie fressen!' Ich bin dann ja weg von meinem älteren Bruder, hab bei Zirkussen gearbeitet, war immer sehr sparsam, habe nie was ausgegeben." Alle bestätigen das. "Und dann bin ich bei ihr hängen geblieben." Er zeigt schelmenhaft mit dem Finger auf seine Frau.

Sie lächelt und sagt: "Ich war jung. Ich war 15, er wurde 21. Mit 19 habe ich ihn geheiratet. Wir sind jetzt bald 60 Jahre zusammen. Damals haben wir angefangen, zusammen zu arbeiten. Ich habe aber vorher schon alleine gearbeitet." Er fügt erklärend hinzu: "Speziell bin ich Luftakrobat. Aber das habe ich nicht zu Hause gelernt. Erst später, nach dem Krieg." Ihm sieht man noch die Kraft an, ihr eher das mädchenhaft Graziöse.

Der Alte funkelt und erzählt weiter: "Ihr Vater hat mich geprüft, als Zeltmeister". Sie sagt leise: "Er war ein sehr guter Arbeiter!" Er: "Das war ja selbstverständlich. Es ist mir da gut gegangen. Da war Ordnung, so wie es sein muss. Das ganze Stammpersonal vom Zirkus Alberti, das war alles Familie, insgesamt etwa 50 bis 60 Personen. Und der Chef war der Kopf. Er hat außerdem noch gehabt Geschäftsführer, Buchhalter, Kassiererin usw. Das war ein großer Betrieb. Alles da, Musikkapelle, Clowns, Artisten, Pferde, Tiger, Löwen, Bären, Kamele, Affen, ein ganzer Wagen voller Affen." "Schade", sagt seine Frau, "wir haben die Bilder nicht hier."

Alles für den VEB

"Wir durften arbeiten bis 1972. Konnten gastieren, aber nur in kleinen Städten bis 5.000 Einwohner. Und wir durften nicht mehr als 500 Personen ins Zelt reinlassen, Platz war für 1.000. Das waren alles strenge Vorschriften. Der Chef, der Karl Schmidt, ist 1972 mit nur 64 Jahren gestorben. Im September. Der Zirkus war noch auf Reisen und wir bekamen Bescheid, wir können erst mal weitermachen. Aber bei der Rückkehr ins Winterquartier haben wir erfahren, dass wir keine Lizenz mehr erteilt bekommen. Das war das Ende!

Wir hatten schon Verträge gemacht mit einer tschechischen Musikkapelle, aber wir durften nicht weiter arbeiten, weil die Kommunisten alles haben wollten, für ihren VEB Zentralzirkus. Dabei hatten sie schon drei übernommen: Aeros, Busch und Berolina. Aber das reichte denen noch nicht. Andere sind vorher abgehauen in den Westen.

Also dann mussten wir aufhören, 1972. Sie haben uns allen noch angeboten, dass wir im Staatszirkus arbeiten können. Aber keiner von uns wollte da arbeiten. Wir waren freie Menschen, selbständig! Dann haben wir ein Gewerbe beantragt und wir haben ein Gewerbe auch gekriegt. Die ganze Familie. Seit Anfang der 70er Jahre sind wir als Schausteller unterwegs. Alle zusammen, das hieß dann ,Vergnügungspark Alberti' und wir waren auf Jahrmärkten, Stadtfesten, Märkten und Volksfesten."

Die Seniorchefin sagt: "Es ist mal ein Film gemacht worden über uns, ,Die Albertis', der lief im WDR, davon haben wir zu Hause noch ein Video." Auf unsere Frage, was denn aus den Raubtieren geworden ist, verzieht sich das Gesicht des Alten, gequält sagt er: "Die Löwen und Tiger sind in Potsdam hinten im Hof erschossen worden, vom Jagdkommando Babelsberg." Frau Frank flüstert: "Das war ganz schlimm! Eine schreckliche Zeit!"

Die Großfamilie

Der Seniorchef sagt: "2000 war der Film, und damals hat sich das dann auch getrennt. Die Familie war so groß, es waren zu viele Leute geworden. Aus einem einzigen Vergnügungspark sind dann viele geworden. Trotzdem sind wir an sich ein Familienunternehmen geblieben. Bei uns ist es so, wenn einer Hilfe braucht, sind alle da und helfen. Wenn eine Hochzeit ist, im engeren Kreis, dann sind 600 Personen da. Und die direkte Familie, die hält noch mehr zusammen. Ich bin die ganzen Jahre mit meinem Sohn gefahren. Wie der Umschwung war, die Vereinigung, da haben wir Kredit gekriegt, mein Sohn hat ein großes Fahrgeschäft gekauft, meine Tochter hat auch gekauft, die anderen auch alle. Und damit sind wir gefahren. Jetzt bin ich hier, wo es ein bisschen gemütlicher ist." Er lächelt verlegen und schaut auf seine kräftigen Hände, nichts scheint ihn mehr zu kränken als die drohende Altersschwäche seines Körpers.

Der Eintritt des Juniorchefs, Freddy Schmidt, macht der Pein ein Ende. Er ist 42 Jahre alt und noch voller Kraft, Unternehmungsgeist und Zuversicht. Sein Vater und die Seniorchefin waren Geschwister. Der Vater seiner Mutter, Willi Ortmann, war Direktor vom Zirkus International. Für die Verspätung entschuldigt er sich höflich, die Frauen verkneifen sich ein Grinsen und der Alte sagt: "Vom Zirkus habe ich schon alles berichtet." Und während Freddy Schmidt zu erzählen beginnt, macht sich Sandy Schmidt an die Zubereitung von Nudeln mit Tomatensoße fürs Mittagessen.

"Ich bin noch im Zirkus Alberti geboren. Meine Mutter hat Wehen gekriegt, sie haben angehalten, die Hebamme geholt und als ich geboren war, da sind sie weitergefahren. Meine ganzen Schwestern, wir alle, sind im Wohnwagen geboren. Ich 1969, und 1972 war der Zirkus schon weg. Aufgewachsen bin ich als Schaustellerkind, deshalb habe ich zum Zirkus nicht mehr so den Bezug. Ich kenne nur Geschichten und Bilder davon. Aber ich hatte es trotzdem schön, habe eine schöne Jugend verlebt – stimmt's, Rosi? Und jede Woche woanders. Nur im Winter waren wir zu Hause, in Drewitz. Da haben wir alle gewohnt. Das Schaustellerleben ist ganz anders. Man hat keine Tiere. Beim Zirkus hat man viele große Tiere, die man satt kriegen muss. Im Winter hat man immer nur Sorgen und man kann nicht weg. Wir haben viel weniger Sorgen, können sogar mal Urlaub machen. Die Ziegen und Karnickel werden untergebracht. 90/91 habe ich mich selbständig gemacht, vorher bin ich mit den Eltern gefahren, habe da meinen Lohn gekriegt. Alle haben sich selbständig gemacht und haben ihre eigenen Fahrgeschäfte. Und manchmal kommen wir auch zusammen. Also dieses Schaustellerleben gefällt uns, wir sind frei und unabhängig, kommen und gehen, wann wir wollen.

Frühjahr ist immer schwer

Normal ist eine Woche, vierzehn Tage, an einem Ort. Aber so lange wie hier haben wir noch nie gestanden. Frühlingsanfang sind wir gekommen, bis Ostern bleiben wir noch. Das sind dann 5 Wochen. Normalerweise wären wir jetzt von Platz zu Platz gefahren. Aber hier ist ein guter Platz und nicht so teuer. Die Leute fahren vorbei, sehen uns, und manche kommen. Das reicht uns zum Überleben, bis die Saison losgeht. Die nehmen an Platzmiete für den Quadratmeter 50 Cent hier, 3.000 Quadratmeter sind es. Dann kommt der Hydrant dazu und Strom, viel läuft bei uns ja über Strom. Und Toilettenhäuschen für Besucher haben wir auch noch gemietet. Man muss eben die Einnahmen gegen rechnen. Nicht immer kommt was raus." Der Alte ruft aus dem Hintergrund: "Die Ausgaben sollen die Einnahmen nicht auffressen!", und Sandy sagt, während sie in der Soße rührt: "Wir geben uns ja alle Mühe!"

Freddy Schmidt fährt fort: "Und einen Notgroschen hat jeder. Frühjahr ist immer schwer. Wenn dann die Stadtfeste anfangen, geht es aufwärts, aber weil wir sehr wetterabhängig sind, kann man nie wissen. Es darf nicht regnen, es darf nicht schneien, es darf nicht zu heiß sein. Schön wären 24 Grad, und das den ganzen Sommer. Die beste Zeit für uns ist eigentlich der Herbst, wenn er gut ist. Na ja, wir kleckern so durch und versuchen, dass das Konto gedeckt ist, um unsere Rechnungen zu bezahlen. Da sind ja auch noch Steuern, die Versicherungen, und die Sicherheitsüberprüfungen - allein 20 TÜV-Berichte für die Fahrzeuge - Unterhalt und Reparaturen vom Fuhrpark, den Fahrgeschäften, der Diesel, unsere ganzen eigenen Kosten, die wir bezahlen müssen. Das ist nicht mehr leicht heute, wo alles so viel teurer ist. Und jetzt, durch die Wirtschaftskrise, brechen noch schwerere Zeiten an. Die Leute geben weniger Geld aus fürs Vergnügen.

Zum Glück sind wir handwerklich alle sehr begabt. Wenn was kaputtgeht, können wir viele Sachen alleine reparieren. Nur der Computer ist zu schwierig. Wir können alle schweißen, Autos montieren, Radwechsel. Das kostet ja viel Geld. Machen wir alles selber. Viel haben wir uns gegenseitig beigebracht." Der Alte sagt: "Bei mir ist einmal im Jahr die Kupplung kaputt, weil ich schwere Sachen ziehen muss." Beschwichtigend sagt der Juniorchef: "Jeder hat mal was kaputt, was gemacht werden muss. Und bei mir ist es so, ich höre schon am Geräusch, wenn am Auto was ist oder am Karussell. Ah, da klappert was, das muss ich machen. Meine Schwester und ich arbeiten ja momentan zusammen, fürs Frühjahr, damit wir leben können. Danach fährt wieder jeder für sich alleine.

Außer, der Opa, der bleibt bei mir. Also die beiden. Er bleibt der Küche treu, schmeckt ihm hier am besten." Sandy sagt sehr ruhig: "Bei uns ist es so: Den Alten soll es an nichts fehlen. Und wenn es eines Tages mal nicht mehr geht, dann können sie trotzdem bei uns bleiben, dann wird eine Krankenschwester eingestellt, die mitreist. Wir haben einen Verwandtschaftsfall, da ist der Vater blind und der Sohn hat eine Schwester engagiert, die mitreist. Bei uns muss keiner ins Heim! Und wir Frauen werden immer was auf den Tisch bringen. Am Essen wird auch nicht gespart!" Der Seniorchef brummt: "Wir lassen keinen verhungern, nehmen noch einen mit, der auch was haben will." Sandy füllt Nudeln und Soße auf einen Teller, reicht ihn der Tochter und die zieht sich grüßend damit zurück in den eigenen Wohnwagen der Kinder.

Freddy Schmidt sagt: "Ich dachte, ich habe sie noch ein paar Jahre, aber sie hat einen Freund, sie wird ja 20. Er ist auch aus einer Schaustellerfamilie. Wenn zwei an einem Strang ziehen, ist es immer besser. Ich bin zufrieden. Der Junge ist okay und alles. Die fragen ja bei uns auch noch, ob man gehen darf mit der Tochter. Das macht man nicht einfach so! Da gehört auch Anstand dazu, und Respekt. Das muss die nächste Generation fortsetzen, die Traditionen, die wir haben. Wir sind ,Zirkusschausteller', wir sind anders als die, die schon immer Schausteller waren. Wir sind familiär aufgezogen, gut aufgezogen, und wir suchen den Zusammenhalt." Freddy wirkt etwas melancholisch.

Sandy sagt: "Bei uns ist es so: Schon als kleine Kinder lernen sie, Rücksicht zu nehmen auf die Eltern und Großeltern. Wenn jetzt meine Mutter reinkommt und meine Kinder sitzen, dann stehen sie auf." Die Seniorchefin fügt hinzu: "Ja. Meine ganzen Enkelkinder machen das, hab neun Enkel und zwei Urenkel. Und ich selber und meine 5 Geschwister, wir haben das auch so gelernt zu Hause. Und die Eltern waren ja auch wie Lehrer. Ich war 3 Jahre alt, wie ich angefangen habe bei Papa. Mein Papa hat alles gemacht als Artist, der konnte auch auf dem Seil. Die älteste Schwester hat tanzen gelernt, Czárdás. Und die andere, die hat auch geritten, Terre a Terre gearbeitet, eine Weile haben wir zusammen geritten, Pas de deux und alles. Die Pferde haben Plié und Compliment gemacht.

Mit Papa Luftnummern geübt

Ich war die Dritte und ich habe vielleicht mehr Interesse gehabt, oder Talent, für ganz verschiedene Kunststücke. Ich habe mit meinem Papa Luftnummern geübt, jeden Tag. Dann kam der Onkel, da war ich 10, 11, da habe ich im Ring gearbeitet, hab auch Pferde mit ihm geritten, schwere Pferde, Kaltblüter, Mecklenburger. Bin auf seinen Schultern gestanden. Und wie mein späterer Mann dann kam, dann hab ich es mit ihm gemacht." Ihr Mann wirft die Arme in die Luft und ruft aus: "Sie war so leicht. Und, nicht vergessen: Sie war ja auch Schlangendame, Schlangenmensch!" Sie: "Ich sage Kautschuk. Von oben und dann mit dem Kopf unten durch." Er: "Sie hat Arme ausdrehen gemacht und alles." Sie: "Auskugeln. Man legt sich auf die Erde, dann hat sich da einer und dort einer auf meine Hände gestellt, dann habe ich die Rolle rückwärts gemacht und ausgekugelt. Dann bin ich wieder zurück und die Gelenke haben sich wieder eingekugelt." Er: "Die Ärzte haben sich gewundert." Sie: "Schon, aber da waren wir jung."

Wir bitten sie, einen Auftritt zu schildern. "Na ja, die Kapelle hat gespielt und ich bin rein. Compliment. Und dann habe ich da gearbeitet, Handstände gemacht, hinten durch, vorne durch. Spagat, alles. Ich war in alle Richtungen biegsam, Kautschuk eben." Er: "Oder die Lawinenstürze, die sie gemacht hat. Von der Leiter ist sie senkrecht runter, 6-7 Meter. Sieht wie ein Absturz aus." Sie: "Sollte so sein." Er: "Luftnummer haben wir beide zusammen gemacht." Sie: "In der Luft war er mein Haltemann. Akrobatik an der Stange war das, wir haben an der Perche-Stange gearbeitet." Er: "Die hing oben in der Zirkuskuppel, war aus Eisen, damit nichts bricht." Sie: "Und da sind wir hoch, haben uns angeseilt an der Stange, mit so einer Schlaufe und dann haben wir Akrobatik gemacht. 10 Meter über dem Manegenboden, in der Luft. Bei Auftritten im Friedrichstadtpalast waren wir sogar 15 Meter über dem Boden. Die Luftnummer erfordert viel Kraft. Den Körper da hochzubringen brauchte Kraft. In der Manege war es einfacher als in der Luft. Auf den Pferden habe ich lieber gearbeitet. Knochenarbeit, wenn man älter wird, geht nicht! Heute bin ich 74 und kann nur noch Spagat." Sie lacht.

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