Zu Besuch bei Autor und Künstler Schuldt: „Ein Buch hat neun Leben“
Schuldt ist Künstler und Schreibender. Zuletzt hat er vergangenen Hafenwelten ein enzyklopädisches Buch gewidmet. Ein Balkonbesuch in Hamburg.
In New York, wo er 30 Jahre lang gelebt hat, da habe er eine Dachterrasse gehabt und Tomaten, die in einer Badewanne wuchsen. Da habe er bereits erfahren, dass man nicht im Freien arbeiten kann: „All die Fotos, die man von russischen Autoren sieht, ein runder Tisch aus Brettern mit Rillen dazwischen, weißlackiert, Datscha mit Garten drumherum, die Schreibmaschine“, sagt er, „alles Propaganda!“ Und mit nun sehr fester Stimme: „Man kann im Freien nicht schreiben!“ Es wehe doch alles weg, und wir seien ja Troglodyten, Höhlenbewohner. Da „braucht man ein Dach, da muss man in einer Schachtel sitzen“.
Schuldts neues Buch aber stiftet ja den Anlass, auf seinem Balkon zu sitzen. Schuldt, Vorname: Herbert, der aber kaum mehr erwähnt wird, 1941 in Hamburg geboren als Sohn eines Reeders, so ist zu erfahren. Ein Schriftsteller, der einst mit Hubert Fichte um die Häuser zog und als „Gelehrter voller Schalk“ bezeichnet worden ist, als „mad scientist“ und „linguistischer Konstruktivist“. Später wurde er auch Radiomacher, da zahlte das Radio noch vernünftig und wagte was. Auch Fotograf ist er und überhaupt bildender Künstler: Neben Bazon Brock war Schuldt dabei, als der später auch den Vornamen weglassende Friedrich Hundertwasser, ab 1959 dort Gastprofessor, die Hamburger Kunsthochschule mit einer nicht enden wollenden auf- und absteigenden Linie zu verzieren begann. (Die Sache endete im Zwist: Der Rektor drohte mit der Polizei, Hundertwasser brach seine Aktion ab – und mit Hamburg gleich mit.)
Jetzt also hat Schuldt ein Buch geschrieben: „Hamburgische Schule des Lebens und der Arbeit“, Untertitel: „Die vergehende Wahrheit“. Darin findet sich auch eine Liste mit zum Hafen gehörigen Straßennamen: „Auf dem Ebbschütt“, „Brisesteg“, „Auf der Verdrängung“ oder „Um die Bruchkisten“. Davor eine Petition, ein emphatischer Aufruf an den Senat der Freien und Hansestadt, doch bitte geeignete Namen für Hamburgs Straßen und Wege zu wählen, geeignet im Sinne seiner Bewohner: Und sich nicht, wie in der Hafencity, diesem neuen Stadtteil ohne Hafen, komplett zu verirren – mit Bezeichnungen wie „Osakaallee“, „Magellan-Terrassen“ oder gar „Überseeboulevard“. Die dort auch zu findende „Shanghaiallee heißt so“, ätzt Schuldt, „weil dort kein Shanghai ist“.
Im Buch schreibt er ergänzend von „Jahren der Verflachung“. Was hat es auf sich mit der? „Sie ist fertig geworden“, sagt Schuldt gutgelaunt. Er lehnt sich zurück: „Mit Verflachung ist gemeint, dass die Wasserbecken zugeschüttet wurden und die hafenwirtschaftlichen Gebäude, die man für die Hafencity nicht gebrauchen konnte, abgerissen wurden. Was nach oben über der Erde stand, war weg; was nach unten mit Wasser gefüllt war, war auch weg.“ Und: „Ich habe mir einen Spaß daraus gemacht, das Wort Verflachung wörtlich zu nehmen.“ So baggermäßig.
Ist Schuldt ein Hamburger Autor? Ist er nun wieder hier, nach den Jahren in New York, davor auch in Paris und in England, wo er auf Französisch und Englisch schrieb, und zuletzt in China? Oder macht er nur Zwischenstation? Das müssten andere entscheiden: „Ich will Sie hier nicht im Regen stehen lassen, aber ich kann dazu wirklich nichts sagen.“ Oder gerade mal so viel: „Ich habe nicht umfassende, aber ausreichende Kenntnisse von Hamburg; ich bin insoweit davon geprägt, als ich von hier bin.“
Er steht auf. „Ich hatte Ihnen leichtfertigerweise Kaffee versprochen“, sagt er und geht ab. Kommt zurück und fragt: „Mit Milch oder ohne?“ Er selbst nimmt Espressobohnen, eine Mischung aus 70 Prozent Milch und 30 Prozent Kaffee, das gehe einem nicht so auf den Magen, dafür werde man davon satt. „Als ich in China Familie hatte, hatten wir eine Mikrowelle“, erzählt er. Chinesen ohne Mikrowelle, das sei undenkbar. So wie es undenkbar scheint, dass die Chinesen ohne zappelnde Neonröhren leben. „Soweit ich weiß, gibt es Neonröhren kommerziell seit 1926, vorher kann es also keine Chinesen gegeben haben“, lacht er. Und sagt im Weggehen: „Das mit der alten Kultur ist alles Quatsch, ist alles ausgedacht.“ Er dreht sich noch einmal um: „Möchten Sie auch ein gekochtes Ei?“
Der Kaffee steht auf dem Tisch, die Eier kühlen auf löffelbare Temperatur herunter, im Toaster erwärmen sich zwei Brotscheiben. Ich solle gerne zugreifen, sagt Schuldt und rührt in einer Schüssel Tomatenscheiben, Avocado-Viertel und Zwiebelringe zusammen. Er würzt nach, entschlossen – es wird wunderbar schmecken.
Ein Buch enthalte ja alles Mögliche, sagt Schuldt: „Ein Buch hat mindestens neun Leben, und der Autor weiß es auch nicht so genau, wovon es handelt, es geht ihn auch fast nichts an.“ Er wird kurz grundsätzlich: „Ich sehe Bücher mehr als eine Art Raster, über das die Leute gehen, dann löst es Reaktionen bei ihnen aus. Ich kann nicht voraussehen, was es ist, das es auslöst.“ Es zeigt sich, dass er nicht allzu optimistisch ist, was das angeht: „Die Mehrheit des potentiellen Publikums will keine Reaktion bei sich ausgelöst haben.“ Schuldt setzt eine wohldosierte Pause: „Die Leute wollen Pralinen schlürfen.“
Wir kommen kurz vom Pfad ab, essen, trinken Kaffee, sitzen in der Sonne. Reden über Hamburg, also über das Hamburg von früher. Dass etwa morgens im Radio, im Auftrag des Arbeitsamtes, mit sonor-amtlicher Stimme verkündet wurde: Am Schuppen 56 werden 20 Schauerleute gebraucht – und dann fanden sich dort 20 Schauerleute ein, zeigten ihre Papiere vor und wurden eingewiesen, wenn nötig. Wer weiß das noch?
Die Leute wüssten ja heute kaum bis gar nicht mehr den Unterschied zwischen einer Hafenfähre und einer Hafenbarkasse, klagt Schuldt: Letztere war nur dafür gedacht, Hafenarbeiter von den Landungsbrücken rüber auf die Hafenseite zu fahren. Sie machte gar nicht erst fest, drehte sofort wieder ab, sobald der letzte von Bord war. 11.000 Hafenarbeiter und Schauerleute gab es damals, das kann man bei Schuldt nachlesen.
Ist sein Buch mit all seinen Rückgriffen auf das Hafenleben ein Lob der Handarbeit? Schuldt wiegt den Kopf: „Irgendwo habe ich geschrieben, es lohnt nicht mehr, die Leute bei der Arbeit zu fotografieren, weil mittlerweile alle am Computer sitzen.“ Früher hätten die Berufe allein schon eigenartig gefertigte Werkzeuge verlangt: „Der eine stand, der nächste kniete, der dritte saß in einer Lederschürze hinter einem Amboss, und alle hatten ihre eigentümlichen Bewegungen und Handgriffe“, führt er aus – aber sie hatten auch „ihre eigentümlichen Gelenkkrankheiten, heute gibt es nur noch das Karpaltunnelsyndrom vom Tippen“, sagt er. „Es ist furchtbar langweilig geworden.“
„Jemand, der das Buch nicht gelesen hat, hat mich gefragt, ob ich dafür monatelang in Archiven gesessen hätte“, sagt er. Und schüttelt den Kopf, als wäre er immer noch erstaunt. „Da steht nur drin, was ich weiß. Es geht nur um das, was ich sowieso weiß.“ Wir beugen uns über seine Liste mit Vorschlägen für bessere Straßennamen: Die hat er irgendwann mal begonnen, mehr als eine Seite war nicht zusammengekommen, unter „Gedichte“ rubriziert, unter „Vermischtes“. Diese eine Seite versprach Schuldt dann jemandem, für eine Anthologie. Aber da hätte es eines erklärenden Vorwortes bedurft: Wie soll man das denn sonst verstehen können? Stattdessen schrieb Schuldt lieber weitere Straßennamen auf – das mache viel mehr Spaß, als sich zu erklären –, ordnete sie wesensverwandten Künstlerinnen und Künstlern zu. Und machte sich dann auf alphabetische Weise daran, neue und alte, mögliche und wahrscheinliche Hafenstraßennamen beschreibend mit Leben zu füllen oder zum Leben wieder zu erwecken, von „Achtern Diek“ über „Jakobs Leiter“ bis „Zum Festmachertreff“.
Schuldt: „Hamburgische Schule des Lebens und der Arbeit“, Berenberg Verlag, 135 S., 25 Euro.
Vorstellung: Sa, 7. 9., Hamburg, Internationales Maritimes Museum, Koreastraße 1
„Ich habe mich gewundert, was mir alles einfällt und auch wie viel Plattdeutsch aus mir herauskam, was ich nie konnte, also nie wusste, was ich konnte“, erzählt er. Im Nachhinein gefällt ihm, wie dieses fremde Eigene nun, im Werk verarbeitet, etwas von Spracherfindung hat und seinetwegen auch von Heimatverbundenheit.
Straßennamen als Quellen geschichtlich-atmosphärischer Erkundungen? „Was ich an Wien gerne habe, das sind die Straßennamen“, sagt er. „Die sind ziemlich gut.“ Aber auch die aus Hamburg, die realen, die er der erwähnten Petition folgend aufzählt, seien ja ganz manierlich: frei von Angeberei. „Sie sind welthaltig, aber nicht weltläufig“, sagt er. Tippt sich an den Kopf: „Das hätte ich mal so reinschreiben sollen!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier