Zivilcourage: Menschenversuch geglückt
Lässt sich Hilfsbereitschaft lernen? Die Präventionsstelle der Polizei Hannover hat einen Feldversuch gewagt - zunächst ganz ohne das Wissen der Beteiligten.
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Keine alltägliche Szene, aber eine, mit der man im Straßenverkehr rechnen muss: Mitten auf dem Gehweg liegt ein verletzter Mann, begraben unter seinem Fahrrad. Hände und Gesicht sind blutverschmiert, das Auge blau angeschwollen. Einige Passanten an der innerstädtischen Georgstraße eilen sofort auf den Hannoverschen Opernplatz, um dem Mann zu helfen. Der gestürzte Radfahrer versucht sich aufzurichten, taumelt und sinkt zu Boden. Doch anfassen, ihm aufhelfen will ihm keiner so recht. Es ist wohl das Blut, das die Passanten abschreckt.
So unwahrscheinlich zügig erscheint ein Polizist, dass die ersten Helfer bereits ahnen, dass etwas nicht stimmt. Und tatsächlich löst der Polizist die Szene sofort auf. Der vermeintliche Unfall sei in Wirklichkeit nur fingiert, um die Reaktionen von Passanten auszutesten. Tatsächlich haben Beamte der Polizei Hannover schon die ganze Zeit die Szene unbemerkt beobachtet und schreiten nun ein, noch bevor die Helfer den Notruf tätigen.
Den unfreiwilligen Probanden wird erklärt, dass die Wunden des Radfahrers nur geschminkt waren, ja der Radfahrer selbst Polizist ist. Binnen Sekunden sind die Passanten in ein Gespräch über verantwortliches Handeln und Zivilcourage verwickelt, die Polizei teilt Infomaterial aus und gibt Verhaltenstipps. Und sobald alle Passanten beraten und aufgeklärt sind und sich das Helfer-Grüppchen wieder aufgelöst hat, geht die Aktion wieder von vorne los.
Für Polizeisprecher Heiko Steiner ist die Undercover-Aufklärungsaktion ein voller Erfolg, weil die Mehrheit der Passanten angehalten hat und dem vermeintlich Verletzten Hilfe angeboten hat. Von insgesamt 50 Zeugen bei den einzelnen Unfällen gehen 31 Personen auf den Gestürzten zu, bieten Unterstützung und Erste Hilfe an. Selbstverständlich ist das nicht. Die abstrakte Gewissensfrage: "Würden Sie jemandem helfen, der blutüberströmt am Boden liegt?", wird zwar jeder wie selbstverständlich bejahen. Doch die Praxis sieht häufig anders aus.
Zivilcourage ist kein Wert an sich, kein Charakterzug. Es gibt zwar Helfer-Typen: empathiefähig, selbstbewusst und mit sozialem Gewissen. Doch oft genug schreiten selbst solche Menschen in Notsituationen nicht ein. Da gäbe eine ganze Reihe von Hemmschwellen, die überwunden werden müssen, erklärt die Göttinger Sozialpsychologin Margarete Boos. Erstmal würde jeder darauf schauen, was die anderen machen. Man ignoriert die Situation, weil alle anderen sie auch ignorieren. "Pluralistische Ignoranz" nennt sie dieses psychologische Dilemma. Und je mehr Menschen vor Ort sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass jemand hilft. Die anderen werden sich schon kümmern, sind näher dran, viel kräftiger.
Von Experimenten wie dem in Hannover hält Boos nichts: "Ich finde es eigentlich nicht richtig, wenn so ein Bedrohungsszenario gestellt wird." Eine vergleichbare Anfrage von der Göttinger Polizei habe sie selbst bereits abgelehnt. Allerdings findet sie es vertretbar, solange im Anschluss dann auch wirklich alle mit der Aufklärungsarbeit erreicht werden.
Dass die Teilnehmer des Zivilcourage-Trainings eher zufällig und unfreiwillig in die vermeintliche Unfall-Situation hineingezogen wurden, sieht Polizeisprecher Steiner dagegen nicht allzu problematisch: "Wir wollten einfach sensibilisieren, gerade das Überraschungsmoment kann ja auch zum Nachdenken anregen."
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