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Zerstörung und Erneuerung

Die Dramatikerin Anja Hilling startet in „Spiel des Schwebens“ ein pädagogisches Experiment. Ausgang ungewiss und verwirrend bei der Uraufführung in Frankfurt

Das Bühnenbild von „Spiel des Schwebens“ der brillanten Bühnenbildnerin Marlene Lockemann beeindruckt sehr Foto: Felix Gruenschloss

Von Shirin Sojitrawalla

Alles ist kurvig: die schwarzen Wände in den Kammerspielen, die über der Bühne hängenden Traversen und auch die Hauptfigur Emilia, genannt Miko. Sie trägt Hosen in Wellenform, in den schrägen Dingern wirkt sie wie eine Zeichentrickfigur in zu großen Umrissen. Tanja Merlin Graf spielt diese Frau und das Kind, das sie einst war, wie eine zartbesaitete Außerirdische. Miriam Draxl hat sie silberfarben eingekleidet, fischartig, selbst ihre Wimpern glitzern silbrig.

Bei Tanja Merlin Graf, die in der Vergangenheit schon ihr außerordentliches Talent für übermenschliche Figurendarstellungen bewies, ist Miko jemand, der sich in keine Kategorie fügt. Sie ist eine Art Versuchskaninchen und das Produkt einer entpsychologisierten Erziehung, eines Aufwachsens ohne den ganzen Ballast, den Eltern gemeinhin abwerfen. Vater Nils (Stefan Graf) und Mutter Vesna (Manja Kuhl) haben sich dafür eine nichtmenschliche Assistentin engagiert, die auf den Namen Kali hört. Kali wie KI und Kali wie die hinduistische Göttin der Zerstörung und Erneuerung. Rokhi Müller verkörpert sie dezent am Rande stehend; ganz in Schwarz gekleidet, spricht sie ihren Text in ein Mikrofon. Ihre Stimme allein hätte womöglich gereicht, um ihre Absicht, den Status Herkunft mit dem Status Schweben zu tauschen, wahr zu machen.

Die deutsche Theaterautorin Anja Hilling hat sich das dystopisch utopische Spiel ausgedacht, die österreichische Regisseurin Christina Tscharyiski es nun am Schauspiel Frankfurt uraufgeführt. Der Titel verballhornt das beliebte „Spiel des Lebens“, in dem kleine Plastiknippel Menschen darstellen und das ganze Leben eine Frage von Würfelglück ist. In der Zukunftsvision des Stücks spielt das keine Rolle mehr, weder erben die Kinder Geld noch die Psychoscheiße ihrer Eltern. Alles so schön gleich hier.

Hilling erzählt davon in drei Teilen, die Vater, Mutter und Kind zu unterschiedlichen Zeiten auflauern. Die brillante Bühnenbildnerin Marlene Lockemann arrangiert dafür drei verschiedene Universen, die womöglich das Diesseits, das Jenseits und den Raum dazwischen ausloten. Als sich der rote, hier auch wellenförmig schwingende Vorhang öffnet, erscheint eine düstere Mondlandschaft, zwei schwarze Hügel, dessen Luken Zugang nach sonst wohin gewähren. In einem der seltenen komischen Momente hängt Miko ihr Bein in eine Luke hinein, und am anderen Ende der Bühne schlängelt sich ihr Fuß scheinbar aus der anderen Luke wieder hinaus.

Zeiten, Maßstäbe, Realitäten purzeln in dem mit vielen Zeitsprüngen operierenden Stück durcheinander. Man kann es als Plädoyer für die Fehlerhaftigkeit der Welt lesen. So ganz klar ist das allerdings an diesem Abend nicht. In einem Text zum Stück schreibt Hilling, sie traue dem „Moment auf der Bühne zu, etwas zu verwirren, um es zu erhalten“. Ein schöner Gedanke. Diese Art der Verwirrung ist ihr Text durchaus in der Lage zu stiften. Doch sie erweist sich als wenig nachhaltig, was in diesem Fall auch der Inszenierung anzukreiden ist, die es nicht vermag, ihr Anliegen über die Rampe zu bringen.

Weder erben die Kinder Geld noch elterliche Psychoscheiße

Vielmehr hat man den Eindruck, dabei zuzusehen, wie Leute nach tragfähigen Ideen suchen, um dem Stücktext szenisch beizukommen. Die grandiose Bühne und die ebenso tollen Kostüme helfen sehr dabei, den schwebenden Charakter der ganzen Unternehmung zu stützen. Das Ensemble indes wirkt in seinen Verzweiflungsgesten seltsam allein gelassen, was wiederum gut die Verlorenheit der Figuren spiegelt. Sie erweisen sich hier nämlich als die wahren Nichtmenschen; passend dazu stellt die österreichische Philosophin Lisz Hirn im Programmheft fest, wir seien alle längst Cyborgs geworden: „Hybride aus Maschine und Organismus“. So erklärt sich wahrscheinlich auch das menschliche Antlitz der KI in der Inszenierung.

Das letzte Drittel des Abends zeigt die alten Eltern bei einer Wiederbegegnung im Hospiz, das auch der Himmel sein könnte oder der Raum hinter der Stirn ihrer Tochter. Hinter einer Leinwand agieren die Eltern in absurden Größenverhältnissen, mal kauert der Vater als Schatten wie ein Männchen vor der Mutter, mal überwölbt er sie riesenhaft und überzeichnet. Ein Spiel, das die Tochter wortlos staunend verfolgt, so wie man Filme und Fotos von Eltern anschaut, um sich von ihrer einstigen Existenz zu überzeugen. In diesen gespenstischen Minuten finden Stück und Inszenierung, wie sonst nie an diesem Abend, auf geradezu wahnhafte Weise zueinander.

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