: Zerrissen zwischen den Welten
Jobben, Praktika, Kinder versorgen - fast jeder vierte Student studiert heute Teilzeit. Doch das ist im deutschen Bildungssystem nicht vorgesehen
VON WOLF SCHMIDT
Lange Haare, Bart, studiert nur die Hälfte der Zeit. Christoph Winkler, 28, erfüllt so manches Klischee, das man von Studenten haben mag. Doch das Vorurteil, faul zu sein, trifft auf ihn nicht zu. Die andere Hälfte seiner Zeit arbeitet der Medizinstudent als Krankenpfleger. Zu den fast 20 Stunden pro Woche in Seminaren, Vorlesungen und Kursen kommen ebenso viele Stunden in der Notaufnahme einer Klinik. Ansonsten könnte sich Winkler das Studium im teuren München nicht leisten, zumal ab kommendem Semester 500 Euro Studiengebühren dazukommen. "Manchmal ist es schwierig, Dienst- und Stundenplan zu vereinbaren", sagt Winkler. "Dann muss halt mal eine Vorlesung dran glauben."
Jeder achte Student bezeichnet sich selbst als "Teilzeitstudent", so eine aktuelle Studie des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) in Gütersloh. In den Erziehungswissenschaften, in Soziologie und Politikwissenschaft ist es sogar fast jeder dritte Student. Manche müssen sich um ihre Kinder kümmern, andere Angehörige pflegen. Die meisten Teilzeitstudenten gehen arbeiten, um sich das Studium zu finanzieren. Oder um Berufserfahrung zu sammeln, ohne die sie nach dem Studium auf dem Arbeitsmarkt alt aussehen würden.
Nach Einschätzung des Hochschul-Informations-Systems (HIS) in Hannover steigt die Zahl der erwerbstätigen Studenten seit Jahren kontinuierlich an. Während 1991 nur 50 Prozent in der Vorlesungszeit jobbten, sind es heute fast 70 Prozent. Nicht jeder sieht sich deshalb als Teilzeitstudent. Doch bei 25 Prozent der Studierenden bleibt nur noch so wenig Zeit fürs Studium, dass sie von den Forschern des HIS als "de facto Teilzeitstudenten" bezeichnet werden: Weniger als 25 Stunden pro Woche.
Manch ein Soziologe mag da nach wie vor von der "Lebenswelt Universität" schwadronieren - mit der Wirklichkeit hat das für viele längst nichts mehr zu tun. Leben, das ist für sie vor allem außerhalb der Universität.
Wie hoch auch immer ihr tatsächlicher Anteil ist: Teilzeitstudierende sind im deutschen Bildungssystem nicht vorgesehen. Nur zwei Prozent aller Studienangebote seien auf sie zugeschnitten, kritisiert das CHE. "Die Hochschulen müssen stärker auf die Bedürfnisse dieser Studenten eingehen", fordert CHE-Projektleiter Frank Ziegele.
Das Gegenteil ist der Fall. Beispiel Freie Universität (FU) Berlin: Die Bibliothek schließt in der Woche um 20 Uhr, am Wochenende ist geschlossen. "Das lohnt sich nicht, da kämen nur wenige", sagt eine Dame an der Auskunft der Uni-Bibliothek.
Zusätzlich verschärft wird das Problem durch den Umbau des Bildungssystems. Seit sieben Jahren stellen die deutschen Universitäten im so genannten Bologna-Prozess ihre Studiengänge auf Bachelor und Master um. 45 Prozent der Studiengänge schließen inzwischen mit den neuen Abschlüssen ab. Straffer sollen sie sein, mehr Inhalt in kürzerer Zeit vermitteln, den Studierenden festere Vorgaben geben, auf dass sie nicht mehr ziellos vor sich hin studieren. Doch was von vielen als Vorteil der neuen Studiengänge gesehen wird, ist für Studierende, die nebenher malochen müssen, ein Problem.
"Es gibt nur wenige Möglichkeiten, aus diesem starren Korsett auszubrechen", sagt Bildungsforscher Ulrich Heublein vom HIS. Dichte Stundenpläne, wenig Wahlfreiheit, aufeinander aufbauende Module, mehr Prüfungen - die kommenden Studentengenerationen werden fest an die Kandare genommen.
Wer dennoch nebenher arbeiten muss - oder möchte -, kann das nur tun, wenn der Arbeitgeber mitspielt. Kilian Evang, 20, studiert Computerlinguistik auf Bachelor und ist nebenher für ein Forschungsprojekt der Universität Tübingen als Programmierer eingestellt. Die Stunden kann er sich frei einteilen. "So kann ich mich auch am Abend oder am Wochenende zu Hause an den Rechner setzen", sagt Evang. Doch sein Stundenplan ist sehr voll. So voll, dass sich Evang trotz Nebenjobs das Studium nie und nimmer allein finanzieren könnte. Ohne die Unterstützung seiner Eltern wäre er aufgeschmissen.
Noch schwerer haben es oft StudentInnen mit Kind. Sarah W. studiert in Berlin Kunstgeschichte und hat während ihres Studiums zwei Kinder bekommen, heute zwei und fünf Jahre alt. Tagsüber ist ihr Nachwuchs in der Kita - bis spätestens 17 Uhr. Was paradiesisch klingt, ist in der Realität weniger wunderbar. "Zwischen 12 und 14 Uhr herrscht so etwas wie eine akademische Mittagspause", sagt die 38-Jährige. "Beliebte Zeiten für Seminare sind 16 bis 18 oder 18 bis 20 Uhr." Dafür hat die Studentin nur drei Worte übrig: "frauenfeindlich und ignorant."
Eigentlich wollte sich Sarah W. von Magister auf Bachelor umschreiben, um ihr Studium schneller abzuschließen. Doch alle hätten ihr abgeraten: Das Bachelorstudium sei mit Kind schon gar nicht vereinbar.
Das beobachtet auch das Referat "Studieren mit Kind" an der Humboldt-Uni (HU) in Berlin. Studierende Eltern seien in Bachelor-Studiengängen unter anderem durch die strengen Anwesenheitspflichten benachteiligt. Besonders wenn die Kleinen krank werden, könnten diese zum Problem werden. Oft bekommen junge Mütter und Väter von Professoren daher zu hören: "Besorgen Sie sich einen zuverlässigen Babysitter und einen wohlhabenden Unterstützer, sonst sind Sie hier falsch", sagt Referentin Jenny Kurtz.
Wie es jenen ergehen kann, die solche Ratschläge ignorieren, lässt sich beispielsweise im Online-Forum studis-online.de nachlesen. Dort beschreibt eine Erstsemesterstudentin, wie sie sich mit zwei Nebenjobs über Wasser halten muss. Jetzt ist sie schwanger. Und sieht nur noch einen Ausweg: "Studium hinschmeißen."
Die Bundesregierung hat jetzt erkannt, dass es studierende Eltern schwer haben. Während das Bafög seit sechs Jahren nicht erhöht wurde, sollen daher demnächst wenigstens Familien einen Kinderbetreuungszuschlag von 113 Euro im Monat erhalten.
Das Teilzeitstudenten-Problem ist damit noch lange nicht gelöst. Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) behauptet zwar, die Schwierigkeiten erkannt zu haben. Getan hat sie bisher nichts. "Das ist eine Baustelle, die wir im Rahmen der Studienreform noch angehen müssen", sagt Christiane Gaehtgens, Generalsekretärin der HRK.
Es ist ein Prozess, der den Universitäten einiges abverlangt. Auch Bachelorstudenten müssten beispielsweise die Möglichkeit erhalten, sich pro Semester nur eine bestimmte Anzahl an Veranstaltungen auszusuchen - und, wenn sie es wollen, auch mal zehn statt der vorgesehenen sechs Semester zu studieren.
Auf die Bedürfnisse der Studenten einzugehen, erfordert eine Umorganisation des Studiums: Seminare auch mittags, abends und an den Wochenenden anbieten, Online-Kurse und Fernstudium ermöglichen. "Dafür brauchen wir Studenten, die das einfordern, vor allem Lehrkräfte, die mitziehen", sagt HIS-Forscher Heublein. Von den klammen Unikassen ganz zu schweigen.
Was die Teilzeitstudenten vollends aus dem Tritt bringen könnte, sind Studiengebühren. Sieben Bundesländer haben in den vergangenen Jahren Gebühren eingeführt und treiben jetzt nach und nach Geld ein. Die meisten dieser Länder verlangen 500 Euro im Semester.
Selbst CHE-Experte Ziegele sieht hier eine Gerechtigkeitslücke. Ohne freilich von der Forderung nach Studiengebühren abzurücken, für die sich sein Institut seit Jahren stark macht. Dennoch sollten, so Ziegele, Studierende nur für die Kurse bezahlen, die sie wirklich besuchen: "Die Gebühren sollten gestaffelt werden, je nach Belegung." Wer nur die Hälfte der Veranstaltungen eines Semesters besuchen kann, müsste also nur die Hälfte der Beiträge auf den Tisch legen.
Zukunftsmusik. Denn noch ist ein Teilzeitstudium offiziell gar nicht vorgesehen. "Bis jetzt wird davon ausgegangen, dass jeder 40 Stunden die Woche Zeit fürs Studium hat", sagt Janett Schmiedgen vom Freien Zusammenschluss der StudentInnenschaften (fzs) in Berlin. "Dass es viele Studierende gibt, die das nicht können, wurde bei der Konzeption von Bachelor und Master nicht bedacht." Vor allem Studierende aus bildungsfernen, weniger wohlhabenden Schichten hätten es dadurch schwerer.
Und so verschärft sich am Ende auch die soziale Schieflage des deutschen Bildungssystems.
Straff studieren, nebenher arbeiten, Berufserfahrung in Praktika sammeln, sich irgendwie um die Kinder kümmern und Gebühren zahlen: Da wird so mancher Teilzeit-Student zum Vollzeit-Nichtstudenten. Und lässt die Uni lieber gleich sein.
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