Zensur zu „Sandy“-Eintrag bei Wikipedia: Die Stimme des Sturms
Der Wikipedianer Ken Mample verhinderte, dass auf der Seite zu Hurricane Sandy der Klimawandel erwähnt wurde – vier Tage lang. Er startete einen „edit war“.
„Ich bin doch nur ein einfacher Wikipedia-Autor ohne bedeutende Titel“, jammert der 56-jährige Ken Mample aus Florida in PopSci.com, der Online-Version des US-amerikanischen Magazins für Populärwissenschaft, Popular Science. Aus seiner Feder stammt ein Großteil des englischsprachigen Wikipedia-Eintrags über Hurrikan Sandy, jenen heftig umkämpften Artikel mit mehr als 500.000 Aufrufen in drei Tagen.
Vier Tage lang hat Mample quasi im Alleingang den Verlauf des Wirbelsturms akribisch auf der Online-Enzyklopädie dokumentiert. Das Resultat: Vier Tage lang war auf Sandys Wikipedia-Seite von Erderwärmung, Klimawandel & co. keine Rede.
Mample hält die Erderwärmung für eine Farce und startete einen sogenannten „edit-war“, löschte jeden Beitrag, der seine Sichtweise in Frage stellt. Möglich ist das, weil bei Wikipedia praktisch jeder Inhalt, jederzeit durch jedermann verändert werden kann – löschen inklusive.
Am 23. Oktober veröffentlichte „Anonymous321“ den ersten Wikipedia-Eintrag über Sandy. Mample stieg in die Dokumentation des Sturms am 25. Oktobers ein. Wie ein Besessener begann er unter dem Psydoneum „Kennvido“ die Wiki-Seite mit Informationen aus unterschiedlichen Nachrichtenquellen zu aktualisieren. Er redigierte die Beiträge anderer Autoren.
„Ich glaube nicht an diesen Schwachsinn mit der Erderwärmung!“
Am Abend des 1. November erschien am Ende der Seite ein neuer Absatz, der Mamples Aufmerksamkeit weckte: „Connection to global warming“ – ein Verweis darauf, dass Klimaforscher nicht genau wissen, ob der Sturm durch die Erderwärmung verursacht wurde.
Mample, bis vor kurzem als Kameramann fürs Lokalfernsehen tätig ist sich sicher: „Ich glaube nicht an diesen Schwachsinn mit der Erderwärmung!“ Er löscht den Beitrag. Mample will, dass die Verfasser diese Frage auf der Seite „global warming“ diskutieren, nicht auf der Sandy-Seite.
Kurz darauf erscheint der Absatz erneut, diesmal mit einer Warnung: „Die Neutralität dieses Artikels wird bezweifelt.“ Wenig später steht darunter „Bitte helfen Sie uns, eine ausgeglichene Darstellung zu ermöglichen.“
No way, muss sich Mample gedacht haben: Am Morgen des Folgetages ist der Absatz wieder weg. Auf der Diskussionsseite des Artikels läuft eine kontroverse Debatte: „Ich bezweifele Kennvidos politische Ansichten und bitte, sie aus diesem Artikel rauszuhalten.“
Bis zu 24 Stunden bleibt Mample wach
Zu „Kennvidos“, also Mamples, Ansichten gehört auch, dass die Erderwärmung definitiv nicht durch den Menschen verursacht wird. Er hat sogar mehrere Unterstützer. Einer schreibt: „Das ist nicht der richtige Ort, um über Klimawandel zu sprechen, da nicht einmal belegt ist, dass er der Auslöser war.“
Mample kämpft weiter, bleibt bis zu 24 Stunden wach. Den Hinweis, dass Wissenschaftler einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Wassertemperatur im Atlantik und dem gigantischen Ausmaß des Sturms konstatieren, interessiert ihn nicht.
Am frühen Nachmittag des 2. November erscheint ein Absatz mit dem Titel „Meteorologischer Verlauf“. Er enthält nun dauerhaft Links zu Artikeln, die Sandy in Zusammenhang mit dem Klimawandel diskutieren. Mample wurde besiegt, wenn auch relativ spät.
„Kein manipulationsanfälliges Laien-Machwerk“
Inwieweit das extreme Ausmaß von Hurrikan Sandy in direktem kausalem Zusammenhang mit der Erderwärumg steht, ist wissenschaftlich noch nicht eindeutig bewiesen. Fakt ist aber, dass sich Wetterextreme als Folge der Erderwärmung häufen.
Fest steht auch: Indem Mample jeglichen Beitrag, der seiner Denkweise widerspricht gelöscht hat, beging er systematisch Zensur. Mehr als eine halbe Millionen Leser waren somit der Sichtweise eines notorischen Leugners des Klimawandels ausgesetzt.
Laut Alvar Freude, Mitglied der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des Deutschen Bundestages*, ist die causa Mample jedoch kein Beleg für die häufig geäußerte Kritik an der Glaubwürdigkeit der viert-frequentiertesten Website weltweit: „Diese Sache taugt nicht dazu, die Wikipedia als manipulationsanfälliges Laien-Machwerk darzustellen. Eher taugt dies dazu, weit verbreitete Ansichten in der US-Gesellschaft aufzuzeigen.“
Tatsächlich ist der Klimawandel in den den USA noch ein kontroverses Thema. Eine Umfrage des Pew Research Center ergab, dass nur 59 Prozent der US-Amerikaner an die Globale Erwärmung glauben – und bloße 34 Prozent teilen den wissenschaftlichen Konsens, dass der Mensch die Ursache ist (2006 lagen die Werte noch bei 79 beziehungsweise 50 Prozent).
Also, was tun gegen Autoren wie Mampel? „In der Wikipedia gibt es immer wieder Tendenzen, dass einige sehr aktive Nutzer andere dominieren. Daher sollte die Wikipedia darauf hinarbeiten, dass insbesondere bei kontroversen Themen erfahrene und kompetente Nutzer oder Administratoren die Texte verstärkt gegenlesen.“ meint Freude. Bis dahin gilt es Wikipedia mit der nötigen Skepsis zu betrachten – so wie die Wettervorhersage.
*Update, 07.11., 19 Uhr: In einer früheren Fassung des Artikels wurde Alvar Freude als Pressesprecher von netzpolitik.org benannt. Dies ist nun korrigiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich