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Zensur im RundfunkSiri als neutrale Instanz

Der Rundfunkrat der Türkei will Fernsehkommentare verbieten. Gewaltaufrufe stehen derzeit höher im Kurs.

„Spiel's noch einmal, Sam. Ich mach mich solange aus dem Staub.“ Foto: Memo Tembelçizer

In der Türkei gibt es seit vielen Jahren eine Einrichtung, die sämtliche Radio- und Fernsehausstrahlungen reguliert und überwacht, den Übergeordneten Rat der Radio- und Fernsehsender RTÜK. Wenn sie eine Sendung beanstandet, kann sie Geldstrafen verhängen oder ein Sendeverbot erteilen. Seit 2019 sieht eine Gesetzesänderung vor, dass RTÜK auch Streamingangebote im Netz überwacht. Die Mitglieder des Übergeordneten Rates werden von den im türkischen Parlament vertretenen Parteien ausgewählt. Nun, aktuell besteht RTÜK demnach in seiner überwiegenden Mehrheit aus Personen, die von der AKP und ihrem Koalitionspartner MHP ernannt wurden. Entsprechend bildet das Sanktionsverhalten des Übergeordneten Rates bis zu einem gewissen Grade die Kulturpolitik der Regierung ab.

Es gibt zum Beispiel eine amerikanische Netflix-Produktion namens Designated Survivor, in der Kiefer Sutherland den US-Präsidenten spielt. In einer unlängst ausgestrahlten Folge legt sich die Figur mit einem Präsidenten der Republik Türkei an, der Fatih Turan heißt. RTÜK sorgte Anfang Mai dafür, dass die entsprechende Folge nicht mehr verfügbar ist. Am 18. Mai hingegen geschah es, dass ein zu einer Radiosendung zugeschalteter Hörer die Meinung äußerte, dass Kartoffelchips mit Bier besonders gut schmecken. RTÜK hörte zu. Der Radiosender durfte drei Tage lang nicht ausstrahlen. Ich persönlich finde zwar, dass, wenn ein Bier gut ist, man nicht einfach nebenher Chips futtern sollte – die verhängte Strafe ging aber selbst mir zu weit. Er hat ja nicht öffentlich dazu aufgefordert, Single Malt on the rocks zu trinken. Dafür wären meiner Meinung nach fünf Tage angemessen gewesen.

Man muss aber ehrlicherweise dazu sagen, dass RTÜK seit seiner Gründung 1994 von jeder Regierung als Daumenschraube gegen die jeweilige Opposition eingesetzt wurde. Die Einrichtung wurde geschaffen, als das Monopol öffentlicher Sendeanstalten mit der Einführung des Privatfernsehens aufgelöst wurde. Auch damals wurden ab und an Ausstrahlungsverbote erteilt oder ein Kanal für ein paar Tage abgeschaltet. Anfang der 2000er Jahre arbeitete ich bei einem Privatsender, der – ich erinnere mich genau – eine Strafe bekam, weil er die Aufzeichnung einer Comedy-Show zum vierten Mal ausstrahlte. Das Problem war allerdings nicht, dass die RTÜK-Mitglieder die Jokes erst beim vierten Schauen verstanden und plötzlich der Groschen fiel. Vielmehr hatte sich seit der dritten Ausstrahlung irgendein Konflikt zwischen dem Inhaber des Senders und der Regierung zugetragen, und RTÜK bekam den Auftrag, den Sender zu strafen.

Strenger geworden ist RTÜK unter der AKP allerdings schon. So müssen Zigaretten verpixelt werden, die eine Fernsehfigur im Mund hat, alkoholische Getränke, die auf Tischen stehen, und sogar Product Placement im Hintergrund wird verpixelt. Sagt eine Figur ein unanständiges Wort, wird es durch einen Beep ersetzt, und das passiert ständig, manchmal bei je* zweiten Wo*. Darüber hinaus wird so heftig in den Szenen rumgeschnitten, dass viele Filme mit ihren Jump Cuts nachgerade experimentell wirken. Stellen Sie sich eine türkische Ausstrahlung von Casablanca vor, in der Humphrey Bogart von Anfang bis Ende mit verpixeltem Mundbereich herumläuft.

Hochwertiges wird nicht zensiert

Es geht mittlerweile um die repressive Ausblendung von Lebensstilen, und da RTÜK mit immer mehr Befugnissen ausgestattet wird, entwickelt sich die Einrichtung von einer Zensurbehörde hin zu einem politischen Unterdrückungsinstrument. Seit 2018 ist sie dem Ministerium für Kultur und Tourismus untergeordnet, also nicht einmal dem Anschein nach mehr eine autonome Körperschaft. Im Oktober 2019 wurde einer der beiden von der CHP ernannten RTÜK-Schöffen, Faruk Bildirici, abgesetzt, da seine Ansichten die “Neutralität“ der Einrichtung “verletzten“. Bildirici hatte nämlich wenige Monate zuvor öffentlich kritisiert, dass sein Chef, der RTÜK-Vorsitzende Ebubekir Şahin gleichzeitig beim Satelliten- und Kabelnetzbetreiber Türksat und beim türkischen Werberat sitzt, und hatte in diesem Zuge das Wort “illegal“ benutzt.

Besagter RTÜK-Vorsitzender Ebubekir Şahin machte am 16. Mai wieder von sich reden, als er in einer Videokonferenz ankündigte, Fernsehkommentare im Zweifelsfall unterbinden zu wollen. Wörtlich sagte er: “Da es ja auch hochwertige Kommentare gab, haben wir bisher niemandem ein Haar gekrümmt. Aber mittlerweile kommentiert ja jeder irgendwas. Wenn das so weiter geht, schieben wir dem einen Riegel vor.“ Etwas später sagte er, sobald Erdoğan es befehle, werde RTÜK Kommentare zensieren.

So erfuhren wir also alle miteinander, dass der RTÜK-Chef nicht nur das Gesetz nicht kennt, sondern auch keine Ahnung von Medienwissenschaften hat, obwohl er die studiert hat. Denn eigentlich weiß jeder Mensch in der Branche, dass ein Text, ob Abendnachrichten oder Medikamentenbeipackzettel, niemals objektiv sein kann. Man wünschte sich, dass das auch beim RTÜK-Chef Şahin ankommt, der immerhin noch in seinem Promotionsverfahren als Medienwissenschaftler steht.

Wir wissen schon, welche Kommentare hochwertig und welche zu verbieten sind. Denn seit Şahin vor eineinhalb Jahren seinen Job angetreten hat, wurden 36 Strafen gegen regierungskritische Sender verhängt, aber keine einzige gegen einen AKP-nahen Sender.

Lieber Mord als Regierungswechsel

Die CHP-Vorsitzende von Istanbul, Canan Kaftancıoğlu, trat in einem ihrer Partei nahestehenden Sender namens Halk TV auf, wo sie sagte:“Ich sehe eine Entwicklung hin nicht nur zu einem Regierungswechsel, sondern zu einem Regimewechsel“. Das wurde dem Sender als Aufhetzung zum gewaltsamen Putsch ausgelegt, es folgten fünf Sendeverbote und hohe Geldstrafen. Denn RTÜK fand, hier hätte der Moderator eingreifen und den Studiogast zum Schweigen bringen müssen.

Andererseits erinnern Sie sich vielleicht noch an den Leuchtturm-Skandal: Eine islamistische Hilfsorganisation hatte in Deutschland Spendengelder gesammelt und veruntreut. In der Türkei wurden die Drahtzieher des Betrugs-Netzwerks ins Gefängnis gesteckt, unter ihnen der damalige RTÜK-Vorsitzende Zahid Akman. Er trat aber nicht etwa aufgrund seiner Verurteilung von seinem Posten zurück. Er blieb auch weiterhin in der Chef-Etage eines Privatsenders, der heute unter dem Namen Ülke TV firmiert. In einem Programm seines Senders sagte ein Studiogast namens Sevda Noyan, ihre Familie habe vor, mindestens 50 Menschen zu ermorden, von denen sie glauben, dass sie mit dem Putschversuch vom Sommer 2016 zu tun hätten. Sie selbst habe eine Feindesliste angelegt, auf der sich auch 5 Personen aus ihrer eigenen Gated Community befänden. Die Moderatorin zeigte ihre Begeisterung.

Das also ist die Atmosphäre, in der RTÜK jetzt selektiv gegen Kommentarsendungen in Nachrichtenprogrammen vorgehen will. Ebubekir Şahin hat übrigens auch öffentlich versichert, der Übergeordnete Rat werde eine Entscheidung über die Hetze auf Ülke TV treffen – und zwar eine Entscheidung, das versicherte er ebenfalls öffentlich, die “den Putsch-Fans keine Freude bereiten wird“. Schließlich sind Feindeslisten und Mordabsichten nichts, das man jetzt “künstlich aufblasen“ müsste oder gar bestrafen. Erst nach massivem öffentlichen Druck tweetete Şahin, der Beitrag sei wirklich nicht zu entschuldigen und man werde tun, was in diesem Falle zu tun sei.

Nun, wenn dem Herrn etwas nicht passt, dann könnte man doch veranlassen, dass die Nachrichtentexte zentral abgefasst und an die Sender ausgeteilt werden, und damit die Sprecherinnen und Sprecher mit ihrem Gesichtsausdruck und ihren Stimmnuancen keine ungewollten Kommentare einbringen, könnte doch Siri die Nachrichten lesen: “Sie hören die Nachrichten, exklusiv angefertigt vom Kommunikationsdirektorat....“

Aus dem Türkischen von Oliver Kontny

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