Zeitforscherin über die innere Uhr: „Sie muss im Gehirn liegen“
Am Wochenende wird sie umgestellt – aber was ist das eigentlich genau, Zeit? Isabell Winkler beschäftigt sich mit dem tickenden Lebenselixier.
taz am wochenende: Was ist Zeit?
Isabell Winkler: Das ist nicht so einfach zu definieren. Ich würde sagen: ein Taktgeber. Das kann der Tag-und-Nacht-Rhythmus sein, der vom Sonnenlicht gesteuert wird. Die Armbanduhr. Oder unsere innere Uhr, die regelmäßig Impulse aussendet.
Warum brauchen wir diese Taktgeber?
Sie dienen der Kommunikation in unserer Gesellschaft. Durch Zeit können wir als soziale Gruppe bestimmte Vereinbarungen treffen, uns takten und synchronisieren.
Wie lernen wir die Zeit kennen?
Unser innerer Taktgeber funktioniert schon seit der Geburt. Säuglinge können bereits kurze Dauern unterscheiden. Zum Beispiel ob Töne, die ihnen vorgespielt werden, kürzer oder länger sind. Längere Zeitspannen wie fünf Minuten erfordern komplexe kognitive Leistungen und müssen erlernt werden. Erst ab dem vierten Lebensjahr beginnen wir zu verstehen, was es bedeutet, wenn jemand sagt, er oder sie komme in fünf Minuten wieder.
Wie funktioniert das?
Wir haben kein Sinnesorgan für Zeitwahrnehmung. Wir müssen diese Wahrnehmung also an etwas anderem festmachen: einer inneren Uhr, die Impulse abgibt. Anhand dieser Impulse machen wir eine Zeitdauer fest. Je mehr Impulse in einer Periode ausgesendet werden, desto länger schätzen wir die Zeit, die vergangen ist. Das heißt prospektive Zeitwahrnehmung, im Hier und Jetzt. Warte ich auf den Bus, läuft die innere Uhr mit, sendet regelmäßig ihre Impulse. Die zähle ich dann und weiß in etwa: Jetzt sind fünf Minuten vergangen, jetzt zehn, oder Mist, jetzt noch viel mehr, der Bus müsste schon längst da sein.
In mir tickt es also?
Das Auszählen der Takte ist nur ein psychologisches Modell, das uns helfen soll, die hinter der Zeitwahrnehmung steckenden Mechanismen zu verstehen. Sie werden unbewusst ausgezählt.
Aus was besteht denn diese innere Uhr?
Es liegt nahe, dass es das Herz ist. Mein Forschungsteam und ich haben aber festgestellt, dass es nicht die innere Uhr ist. Sie muss etwas sein, das im Gehirn liegt. Wo genau, haben wir noch nicht herausgefunden. Die Insula, ein kleiner Teil im Gehirn, ist eine Möglichkeit. Wenn sie lädiert ist, können die Leute nicht mehr gut Zeit schätzen. Aber es müssen viele Bereiche daran beteiligt sein. Es hängt davon ab, was man in der Zeit macht, die man schätzen soll, und davon, wie kurz die Zeit ist: Minuten, Sekunden oder Millisekunden. Das wird alles woanders verarbeitet. Es gibt also nicht diese eine innere Uhr. Es sind eher Schleifensysteme, die miteinander in Verbindung treten und unser Zeitempfinden ausmachen.
Warum vergeht Zeit an einem gemütlichen Abend mit Freund:innen wie im Flug und nur sehr zäh, wenn ich auf den Bus warte, oder endlos, wenn ich von meinem Fahrrad falle?
ist Psychologin. Seit zehn Jahren forscht sie an der Technischen Universität Chemnitz zur subjektiven Zeitforschung.
Das subjektive Zeitempfinden entspricht nicht der objektiven Zeit unserer Armbanduhren. Die Taktrate der inneren Uhr kann beeinflusst werden. Achte ich konzentriert auf die Zeit, weil ich nichts anderes zu tun habe, nehme ich alle Impulse des Taktgebers sehr gut wahr und die Zeit vergeht langsam. Bin ich aber abgelenkt, weil ich mit meinem Handy spiele, telefoniere oder ein Buch lese, verpasse ich Takte und zähle für dieselbe Dauer eine kürzere Taktzahl. Dann kommt es mir so vor, als sei die Zeit schnell vergangen. Ein weiterer Faktor ist die körperliche oder emotionale Aktivierung, auch Arousal genannt. Mache ich Liegestütze oder schleppe schwere Einkaufstüten die Treppe hoch, steigt das Arousal, die Aktivierung. Stresshormone werden ausgeschüttet, die Herz- und Atemfrequenz erhöht sich, die Pupillen vergrößern sich. Und die innere Uhr produziert mehr Takte in derselben Zeiteinheit. Zähle ich die aus, kommt mir die Zeit lange vor. Das passiert auch, wenn ich mich erschrecke oder freudig überrascht bin.
Also lieber keine Liegestütze, während ich auf den Bus warte.
Da würde Ihnen die Zeit sehr, sehr lange vorkommen. Lieber etwas lesen, dann kriegen Sie nicht alle Takte mit. Oder entspannen, dann produziert die innere Uhr nicht so viele Takte.
Wieso vergeht die Zeit langsamer, wenn ich jünger bin, und schneller, wenn ich älter bin?
Das hat mit dem retrospektiven Zeitempfinden zu tun. Es vollzieht sich rückblickend, kein Taktgeber ist wirksam, kein Hier und Jetzt. Erinnern wir uns an länger vergangene Perioden, machen wir die Zeitspanne an der Menge der bedeutenden Erinnerungen fest. In der Erinnerung an unsere Kindheit blicken wir auf viele neue erste Male zurück: das erste Mal Schlittschuhlaufen oder das erste Mal bei der Zahnärztin. Es kommt uns vor, als habe die Zeit lange gedauert. Später im Leben setzen Routinen ein, Stress und Zeitdruck, wir erleben nicht mehr so viel Neues, speichern nicht mehr jede Einzelheit im Gedächtnis ab. Das sorgt dafür, dass uns die Zeit unseres Erwachsenenlebens rückblickend kürzer erscheint.
Haben wir als Erwachsene wirklich so viel Zeitdruck, wie wir denken?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Viele sagen, wir leben in einer schnelllebigen Gesellschaft, in der Zeit ein knappes Gut ist. Ich denke nicht, dass das heute anders ist als früher. Es kommt vielmehr darauf an, was wir alles erreichen und in einer bestimmten Zeitspanne unterbringen wollen. Wir machen uns den Stress oft selbst und schieben es darauf, dass die Welt schnell tickt. Dabei hat das auch viele Vorteile. Gerade durch die Digitalisierung funktionieren viele Dinge sogar besser als früher und brauchen viel weniger Zeit. Dadurch wird von mir natürlich auch erwartet, dass ich Dinge schneller erledige.
Zeit ist Geld. Sollten wir im Zeitalter der Nachhaltigkeitsdebatten auch über einen Wandel von Zeit sprechen? Wie oft träume ich davon, einfach mal die Zeit anhalten zu können oder eine Stunde extra zu haben.
Ich fürchte, das würde nichts ändern. Eine Stunde mehr würde auch wieder aufgefressen werden, weil alle davon wissen und wiederum mehr von mir erwarten würden. Sie würde nicht übrig bleiben für Entspannung oder mein Vergnügen. Wir müssen uns eher fragen, wofür wir uns Zeit nehmen. Für Achtsamkeit, für uns selber, oder für Produktion und Leistung.
Kann ich ohne Zeit leben?
Ohne Zeit sicherlich nicht, aber ohne externe Zeitgeber. Dafür müssten Sie sich vom kapitalistischen System befreien oder rauskaufen, in dem wir alle stecken. Das ist kostspielig und aufwendig und somit nicht jeder Person möglich. Von irgendetwas müssen wir schließlich leben. Fest steht: Es würde anders sein, so ein Leben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“