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Zehn Jahre Flugzeugabsturz in SmolenskDie Opfer-Katastrophe

Kommentar von Gabriele Lesser

Der Absturz des Präsidentenflugzeugs in Smolensk hat den Helden-und-Opfer-Mythos in Polen neu belebt.

Jarosław Kaczyński, Zwillingsbruder des verunglückten Ex-Präsidenten Lech Kaczyński, in Warschau Foto: Slawomir Kaminski/Agencja Gazeta/reuters

P olen ist bis heute gezeichnet vom Trauma der Flugzeugkatastrophe von Smolensk. Zehn Jahre ist es nun her, dass 96 Menschen beim Absturz der Tupolew TU-154 auf dem russischen Militärflughafen Siewierny bei Smolensk ums Leben kamen. Die Maschine zerschellte in dichtem Nebel kurz vor der Landebahn.

Unter den Opfern waren Polens damaliger Präsident Lech Kaczyński und seine Frau Maria, der Notenbankchef Sławomir Skrzypek, die gesamte Armeeführung, hohe Geistliche und etliche Parlamentarier aller Parteien.

Heute kämpft Polen mit der Katastrophe nach der Katastrophe: Die seit 2015 regierenden Nationalpopulisten von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zerstören die so mühsam erkämpfte Demokratie im Namen der „wahren Polen“ und stempeln frühere Mitstreiter und Opponenten zu „Verrätern, Volksfeinden und Mördern“.

Der feindselige Ton kam nach der Katastrophe von Smolensk auf, als die Anhänger der Zwillinge und PiS-Parteigründer Lech und Jarosław Kaczyński erste Verschwörungstheorien in die Welt setzten: An den Händen Donald Tusks, des damaligen Premier von der liberal-konservativen Bürgerplattform (PO), klebe Blut, gifteten sie.

Gemeinsame Sache

Tusk habe mit Russlands damaligen Premier Wladimir Putin gemeinsame Sache gemacht und freue sich sogar insgeheim über den Tod von Lech Kaczyński. Fotos von Putin, der den an die Absturzstelle geeilten Tusk tröstend umarmte, sollten dies beweisen.

Auch das polnisch-russische Verhältnis ist heute völlig zerrüttet. Dabei waren die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine damals noch in weiter Ferne. Im Gegenteil – die Katastrophe von Smolensk konnte auch passieren, weil sich die schwierigen Beziehungen von Polen und Russland auf Entspannungskurs befanden.

Drei Tage vor Kaczyński war schon Tusk mit einer großen Delegation nach Smolensk geflogen und hatte sich dort über den Gräbern von Katyn mit Putin die Hand gereicht. Die beiden Politiker wollten ein neues Kapitel in der Weltgeschichte aufschlagen

Dabei war der Militärflughafen damals schon seit einem halben Jahr geschlossen, vieles funktionierte nicht mehr, die Fluglotsen im Tower arbeiteten nur noch in Notbesetzung. Auf Druck Warschaus und um die sich anbahnenden besseren Beziehungen nicht zu gefährden, öffnete Russland den Flughafen wieder für die polnischen Delegationen.

Enormer politischer Druck

Tusk hatte Glück. Als er flog, herrschte bestes Frühlingswetter. Doch auch die Fluglotsen handelten unter enormen politischen Druck. So hatten sie immer wieder die Piloten der polnischen Präsidentenmaschine vor dem dichten Nebel gewarnt und sie aufgefordert, einen Ausweichflughafen anzufliegen – ohne Erfolg.

Sollten sie aus Sicherheitsgründen den Flughafen schließen? Dies wäre jedoch mit Sicherheit als politischer Affront begriffen worden und hätte die vorsichtige bilaterale Annäherung wieder zunichte gemacht. Nach einen Telefonat mit ganz oben war klar: Der Flughafen bleibt offen – mit verheerenden Folgen.

Nach dem Absturz der Präsidentenmaschine fragten viele Nationalkonservative und Rechtsradikale gar nicht erst nach dem tatsächlichen Unfallhergang, sondern belebten den längst überwundenen Helden-und-Opfer-Mythos der Polen neu.

Dieser Mythos stammte aus dem 18. und 19. Jahrhundert, als Preußen, Russland und das Habsburger-Reich den polnischen Staat vollständig unter sich aufgeteilt hatten und die Polen plötzlich und gezwungenermaßen zu Staatsbürgern von Preußen, Russland und Österreich wurden.

Literarische Durchhalte-Parolen

Die Dichter Adam Mickiewicz und Henryk Sienkiewicz formulierten damals literarische Durchhalte-Parolen wie die Idee von einem Polen als „Christus der Nationen“, das eines Tages wiederauferstehen und allen anderen geknechteten Völkern die Freiheit bringen werde. Dieser Mythos half den katholischen Polen, die 123 Jahre der Teilungszeit zu überstehen, die Okkupationen des Zweiten Weltkriegs und dann auch die kommunistische Zeit bis 1989.

Dieser MY-i-ONI-Mythos (Wir – die Guten und die da – die Bösen) brach 2001 in sich zusammen, als sich die polnische Gesellschaft in der Debatte über das Jedwabne-Pogrom an der jüdischen Bevölkerung von 1941 darüber klar wurde, dass Polen auch Täter waren, nicht nur Opfer und Helden.

Von da an waren die Polen auf der Suche nach einer neuen Identität. Das sich durch die ganze Geschichte Polens ziehende Motiv des Freiheitskampfes hätte die Grundlage einer solchen neuen Identität sein können, die in Anknüpfung an den ehemaligen Vielvölkerstaat Polen-Litauen auch andere Nationalitäten wie etwa die Juden hätte aufnehmen können. Es gab auch zahlreiche Debatten über den Staatsbürgerbegriff.

Doch nach der Katastrophe von Smolensk und erst recht nach dem Wahlsieg der PiS im Winter 2015 wurden all diese Diskussionen abgewürgt. Ganz offiziell ist jetzt wieder der Helden-und-Opfer-Mythos Grundlage des polnischen Geschichtsbilds, wie es in Geschichtsbüchern, Museen und Gesetzen vermittelt wird.

Rückfall in alte Denkmuster

Für Polens Außenpolitik bedeutet dies einen Rückfall in das Denken des 19. Jahrhunderts mit den Erzfeinden Deutschland und Russland – auch wenn Deutschland als Nato- und EU-Partner längst eine andere Rolle spielt und dies auch immer wieder deutlich macht.

Putin hingegen kommt dieser Rückfall Polens in die alten Denkmuster sehr gelegen: Polen als eine Fassaden-Demokratie mit einer in sich völlig zerstrittenen und gespaltenen Gesellschaft ist – wie bereits im 18. Jahrhundert – ein schwacher Staat. Polens Opposition sollte bald aus ihrer Erstarrung aufwachen und der Gesellschaft helfen, das Smolensk-Trauma zu überwinden.

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Auslandskorrespondentin Polen

1 Kommentar

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  • Immer die alte Leier: Polen stilisiert sich als heroisches Opfer! Polen bleibt seinem obsoleten Helden-und-Opfer-Mythos verhaftet! Polen fehlt der kritische Blick auf die eigene Geschichte!

    Dann kommen – wie so oft – die üblichen zu Alltagssprüchen verkommenen Mickiewicz-Zeilen („Christus der Nationen“), mit denen bereits Oberstufenschüler in Polen differenzierter umgehen können.

    Es ist schon erstaunlich, wie viele Artikel sich dem Gegenstand "polnische Geschichte" bloß mit der Intention annähern, in der Vergangenheit passende Argumente gegen die polnische Erinnerungskultur im Allgemeinen oder die (in der Tat problematische) PiS-gesteuerte Erinnerungspolitik im Besonderen ausfindig zu machen. Und es ist den Medien nicht mal wert, anlässlich des 80. Jahrestages des Massakers von Katyn eigenständige Artikel oder Essays zum Thema zu publizieren.

    Einfach nur Schade.