: Zehn Euro in Alufolie
Ein impfkritischer Kinderarzt, gegen den die Staatsanwaltschaft ermittelt. Eine Soli-Kundgebung samt „Querdenkern“ und NS-Vergleichen. Eine Kassenärztliche Vereinigung, die schweigt – fertig ist ein Wunderwerk alternativer Medizin.
Von Moritz Osswald↓
Nur der Bart fehlt. Ansonsten könnte er als Jesus durchgehen. Langes Haar, liebevolle Präsenz. An einem wolkenverhangenen Mittwoch schart er seine Jünger um sich. Über 200 an der Zahl, laut Polizei. Er spricht zu ihnen: „Wir sind eine Familie!“ Sorget euch nicht, sagt er, der menschliche Körper sei ein „Wunderwerk“, was er mache, sei „immer richtig“. In Stuttgart-Möhringen findet die Predigt statt. Das Böse ist gleich gegenüber – in Gestalt der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW).
Es ist natürlich nicht Jesus, sondern Wolfgang Scheel. Ein Kinderarzt, der in Steinheim an der Murr praktiziert. Doch der Vergleich ist nicht weit hergeholt – für viele hier ist der 72-Jährige so etwas Ähnliches. Für ihn wird demonstriert, Solidarität bekundet, denn ihm soll – zum zweiten Mal seit über einem Jahr – die Zulassung als Kassenarzt entzogen werden. Auf den ersten Blick wirkt die Kundgebung eher wie eine Veranstaltung der „Querdenken“-Bewegung. Rote und weiße Shirts verkünden das „Ende der Pandemie“, Kinder mit einem „Umarmbar“-Button toben umher. Auch Stephan Bergmann, Mitgründer des Reichsbürger-Vereins „Primus Inter Pares“, ist mit seinem Trommelteam da.
Gegen den Mediziner ermittelt die Staatsanwaltschaft Heilbronn, unter anderem „wegen Verdachts des Ausstellens unrichtiger Gesundheitszeugnisse nach § 278 StGB im Zusammenhang mit Impfunfähigkeitsbescheinigungen“. Das bestätigte die Erste Staatsanwältin Bettina Jörg auf Kontext-Nachfrage. Seine Praxis und Privaträume seien durchsucht worden sowie Beweismittel beschlagnahmt. Laut Jörg liegen mehrere Strafanzeigen vor, mehr will sie nicht kommentieren, da die Ermittlungen noch laufen.
Tauziehen ohne Aussicht auf ein Ende
Ausschlaggebend für die Ermittlungen dürfte ein Bericht des ZDF-Magazins „Frontal 21“ aus dem Juni sein. Der Beitrag ist der Staatsanwaltschaft ein Begriff, ob die Razzia bei Wolfgang Scheel allerdings darauf fußt, wird nicht bestätigt. In einem Selbstversuch wollten die Redakteure die seit 1. März geltende Verpflichtung zum Nachweis einer Masernimpfung umgehen. Mit Erfolg. In der impfkritischen Szene ist Scheel schon lange beliebt – daher schreiben sie ihn an. Ein Kind namens Jakob wird erfunden, eine E-Mail, Scheel will zehn Euro. Eingewickelt in Alufolie, rein in den Umschlag, und siehe da – wenig später bekam die Redaktion eine Impfunfähigkeitsbescheinigung. Scheels Vorgehen kann man, diplomatisch gesprochen, als sehr fragwürdig und ethisch verwerflich ansehen. Er selbst will auf Kontext-Nachfrage dazu nicht Stellung beziehen. Bei der Kundgebung mit Party-Charakter heimst er sich lautstarken Applaus ein, als er den ZDF-Beitrag als „bösartig“ bezeichnet.
Scheel hat nie bestritten, dass er einem nicht existierenden Kind eine Impfunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt hat. Er geht sogar noch einen Schritt weiter: Würde es nach ihm gehen, reiche die Anamnese der eigenen Eltern, um so ein Gesundheitszeugnis auszustellen. Wieder tosender Applaus. Scheel schwebt von der Bühne. Hans Tolzin betritt sie. Der gelernte Milchwirt aus Herrenberg ist einer der führenden Köpfe in der deutschen Impfgegner-Szene. Tolzin macht, was er immer macht, wenn ihm eine Bühne geboten wird: unwissenschaftlichen Unsinn verbreiten und gegen den „Pharma-Faschismus“ wettern. Der selbsternannte Medizin-Journalist weiß, wie man der Menge einheizt: Ein martialisches „Kommt raus!“ wird angestimmt. Doch sie kommen nicht. Sechs Mitarbeitende der KVBW gucken winkend vom Fenster herunter, manche filmen mit dem Smartphone.
Norbert Metke, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung, und sein Stellvertreter Johannes Fechner sind die Zielscheiben der Impfkritiker- und „Querdenker“-Melange. Scharfmacher Hans Tolzin rief drei Tage vor der Kundgebung auf seinem Online-Portal „Impfkritik“ dazu auf, Mails und Anrufe auf die KVBW einprasseln zu lassen. Dabei entscheiden die beiden Herren gar nichts.
Der rechtlich unabhängige Zulassungsausschuss urteilt, ob Scheel weiterhin praktizieren darf oder nicht. Im Februar dieses Jahres triumphierte Wolfgang Scheel, der Ausschuss ließ ihn weitermachen. Der Jubel bei PatientInnen war groß. Schon damals gab es eine Kundgebung mit etwa 150 Teilnehmenden. Daraufhin legte die KVBW Widerspruch gegen den Beschluss ein. Ein Tauziehen, das kein Ende findet: Bei der Kundgebung am 21. Oktober hätte Scheel eigentlich zwecks Anhörung erscheinen sollen. Die fand nicht statt – die Demo trotzdem. Pandemiebedingt könnte sich der Prozess noch Monate hinziehen.
Licht kann man nicht essen
Der Ärger fing jedoch viel früher an. Im September 2019 leitete die Bezirksärztekammer Nordwürttemberg ein berufsrechtliches Verfahren gegen den Steinheimer Alternativmediziner ein. Ihm wurde vorgeworfen, keine Kinder zu behandeln, deren Eltern auf einer Masern-Impfung bestehen. Knapp zwei Monate später schaltete sich das Gesundheitsamt Stuttgart ein, Scheel habe einen Säugling wochenlang homöopathisch behandelt, der unter Mangelernährung und Entwicklungsverzögerung litt. Er habe die Eltern des Kindes nicht darüber informiert, dass es sich in einem akut lebensbedrohlichen Zustand befinde. Auf Kontext-Nachfrage erklärt Scheel, er habe die Eltern dazu gedrängt, die vegane Ernährung des Säuglings zu überdenken. Sie hätten laut seiner Aussage nicht schnell genug gehandelt. Das Gesundheitsamt äußerte sich dazu bis Redaktionsschluss nicht.
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