ZUM STREIT ZWISCHEN DER UNION UND PAUL SPIEGEL: Der Spielverderber
Hatten die Organisatoren nicht alles getan, um der Großdemonstration in Berlin den Schein der Eintracht zu verleihen? Sollte nicht schon der Titel – „Für Menschlichkeit und Toleranz“ – jenen Bogen beschreiben, unter dem sich die politische Mitte dieses Landes einträchtig versammeln konnte? Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden ließ es sich trotzdem nicht nehmen, die „deutsche Leitkultur“ zu attackieren.
Ob unter dem Begriff etwa zu verstehen sei, „Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden, Obdachlose zu töten“? Paul Spiegel wusste, was er mit seiner durchaus polemischen Frage auslösen würde. Die Miene von Angela Merkel, die an diesem Abend hinter ihm stand, verriet es. Umso bemerkenswerter muss es der CDU-Vorsitzenden in den Ohren geklungen haben, dass Spiegel gerade an dieser Stelle den stärksten Applaus erhielt. Wohlgemerkt nicht von geübten linken Demonstranten, wie sie gerade in Berlin in hoher Zahl zu finden sind. Sondern von ganz normalen Bürgern, also jenen Menschen, von denen man vermuten kann, dass manche wohl auch schon einmal ihr Kreuz bei der Union gemacht haben.
Der Schock über die Reaktionen am Abend von Berlin hat die Union nicht zur Einkehr bewegt. Die CDU/CSU reagiert, wie Getriebene es üblicherweise tun: Sie kastelt sich ein, schottet sich ab. Im Streit um Spiegels Worte zeigt sich, wie sehr sich große Teile der Union zu Gefangenen ihres Begriffes machen. Verzweifelt versuchen sie zu erklären – und zeigen doch nur, wie leer der Begriff ist. Auch der Satz von einer „Leitkultur in Deutschland“ im CDU-Einwanderungspapier änderte daran nichts. Weil auch eine Wortumstellung keine Klärung schaffte, reagiert man nun auf Kritik mit dem Trotz des Kindes, das sich nicht ausdrücken kann.
Wie man die „Leitkultur“ auch wendet, die Union selbst weiß nicht, was sie da so vor sich hin formuliert hat. Auf diesen schlichten Umstand hat Paul Spiegel mit seinen pointierten Bemerkungen am Berliner Abend hingewiesen. Die Aufregung, die jetzt folgte, zeigt, wie sehr er ins Schwarze getroffen hat. SEVERIN WEILAND
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