ZUM ERSTEN ORGINÄR DEUTSCHEN FALL DER RINDERSEUCHE BSE: Die verlorene Unschuld
Für die Deutschen war die Syphilis die „Franzosenkrankheit“. Die Franzosen nannten die Geschlechtskrankheit „spanische Seuche“, und für die Spanier kam das Übel vermutlich vom Portugiesen. Mit der Rinderseuche BSE ist es ähnlich wie mit der Syphilis: Schuld sind immer die anderen, wir selbst sind natürlich sauber. Seit gestern wissen wir, dass Deutschland nicht mehr sauber ist. Ein originär deutsches Rind, das deutsches Gras und deutsches Kraftfutter käute, ist an BSE erkrankt – ein neuer Höhepunkt im Gruselstück um die tödliche Epidemie BSE/Creuzfeldt-Jakob.
Gerade hatten sich unsere deutschen Agrarfunktionäre noch empört, dass die Bundesrepublik vom Lenkungsausschuss der Europäischen Union unter die Länder der BSE-Hochrisikozone eingereiht wurde. Jetzt wird diese Einstufung auf dramatische Weise bestätigt. Deutschland ist keine Insel. Der Erreger hat sich offenbar längst auf dem gesamten europäischen Kontinent ausgebreitet, und ein Ende des Seuchenzugs ist nicht in Sicht.
Als Folge dürfte der europäische Rindfleischmarkt erneut zusammenbrechen. Aber es geht jetzt nicht um die Versachlichung des Themas, wie immer wieder gefordert wird. Es geht um Emotion: Wut, Angst und grenzenloser Ekel sind die einzig adäquate Reaktion auf die Rinderseuche und ihr gewaltiges Bedrohungspotenzial.
Anfang des Jahres hatte Europa begonnen, seine Grenzen wieder für seinen goldenen Götzen zu öffnen: den „ungehinderten Warenverkehr“. Zur gleichen Zeit begannen neue Fakten zu BSE wie Hagelkörner auf unsere Kochtöpfe einzuschlagen: Die alarmierende Zunahme der an Creuzfeldt-Jakob dahinsiechenden Menschen, der starke Anstieg der Fälle von Rinderwahnsinn in Frankreich und Portugal. Und vor allem: Die Erkenntnis, dass der Erreger womöglich über die Blutbahn verbreitet werden kann. Ist jeder Infizierte, der zum Blutspenden geht, eine Erregerbombe? Wir haben uns angewöhnt, auf solche Aussichten fatalistisch zu reagieren. Beim Metzger bestellen wir vielleicht Schweinegulasch oder „gemischt“, aber sonst? Ähnlich stoisch nehmen wir Berichte zur Kenntnis, dass man das Rinderfutter mit Hühnerkot anreichert. Dass alle Arten von krepierten Haustieren – egal an was sie verendet sind – übers Tiermehl im Futtertrog landen und dann wieder bei uns auf dem Teller. Der Appetit kommt beim Essen.
Aber noch sind wir nicht zum Kernpunkt des Problems mit der Rinderseuche BSE vorgedrungen: der Barbarei unserer Massentierhaltung. Vielleicht hilft das originär erste deutsche BSE-Rind, um endlich die zentrale Frage zu stellen: Wollen wir unsere Nutztiere weiter so zur Sau machen?
MANFRED KRIENER
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