Yann Tiersens neues Album : Die fabelhafte Welt nach Amélie

Mit einem Filmsoundtrack wurde Yann Tiersen sehr berühmt, doch das nervt den französischen Musiker eh. Auf seinem neuen Album sucht er die totale Freiheit.

Hat auch echt anderes drauf als gemütliche "Amélie"-Walzer: Yann Tiersen. Bild: promo

Gut 15 Quadratkilometer, 848 Einwohner, zwei Leuchttürme und acht Kneipen, direkt am Eingang des Ärmelkanals gelegen und windumtost. Ouessant ist nicht die Sorte einsame Insel, denen in karibischen Tagträumen gewöhnlich eine Hauptrolle zugewiesen wird. Yann Tiersen gefällt es dort trotzdem, dort vor der Küste der Bretagne. "Ich mag das schlechte Wetter", sagt er. Doch es ist nicht nur das Klima. So widerborstig, so schroff und dann doch auch wieder reizend wie der Flecken Erde, den Tiersen seinen Lebensmittelpunkt nennt, ist auch seine Musik.

Tatsächlich klingt "Dust Lane", das neue Album des französischen Musikers, bisweilen wie eine brüske Zurückweisung. Wie ein Stinkefinger, den er jenen entgegenreckt, die ihn nur deshalb kennen, weil sie vor neun Jahren einmal ins Kino gegangen sind. Die haben damals einen Film namens "Die fabelhafte Welt der Amélie" gesehen.

Kurz darauf wurde im Kreis der Kinogeher zum Beispiel Geburtstag gefeiert und von lieben Freunden gab es den Soundtrack als Geschenk. Auf dem stand "Musik von Yann Tiersen". Und das Missverständnis war in der Welt. Das Missverständnis, Tiersens Musik diene als ideale Rotweinbegleitung in jenen renovierten Altbauwohnungen, in denen sich moderne Mitteleuropäer von ihren anstrengenden Arbeitstagen in der Kreativwirtschaft erholen.

Heute, an einem ungemütlichen, ziemlich bretonischen Tag in Berlin, will Tiersen nichts Negatives sagen über "Amélie". Nur so viel: Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte der Soundtrack nicht vornehmlich aus gemütlichen Walzern bestanden, nicht nur aus temperiertem Klavier und lauschigem Akkordeon. Aber es ging nicht nach ihm, sondern nach Regisseur Jean-Pierre Jeunet.

Dem hat Tiersen nun zwar eine erstaunliche Bekanntheit zu verdanken und jene Umsätze, die das Häuschen möglich gemacht haben, das er sich vor sechs Jahren auf Ouessant zugelegt hat. Im Gegenzug hat er aber nun mit dem Vorurteil zu kämpfen, er sei ein Filmkomponist und die von ihm komponierte Musik neige zum Gefälligen.

Mit zotteliger Unfrisur

Ein Vorurteil, das dem 40-Jährigen, der sein Erscheinungsbild mit Jeanshosen und Jeansjacke, grauen Chucks und einer zotteligen Unfrisur demonstrativ nachlässig gestaltet, gar nicht gefällt. Er findet den Beruf des Filmkomponisten sogar überflüssig. "Musik und Bilder sind zwei völlig separate Dinge", grummelt er, "die werden im Film eher zufällig miteinander verknüpft."

Er legt Wert darauf, dass seine Arbeiten für "Amélie" und auch für den Dokumentarfilm "Tabarly" von 2008 unabhängig vom Film entstanden seien. Nur ein einziges Mal habe er tatsächlich für einen Film geschrieben, für "Good Bye, Lenin!". Regisseur Wolfgang Becker habe ihn überredet. Die Arbeit war dann allerdings eher quälend: "Bilder erzeugen keine Musik in mir, aber Musik erzeugt Bilder."

Die Bilder, die "Dust Lane" erzeugt, lassen sich allerdings kaum in ein Filmgenre einordnen. Zu disparat sind die Klänge. Sie künden vor allem davon, dass Tiersen seinem "Traum von der totalen musikalischen Freiheit" in den vergangenen beiden Jahren, in denen das Album entstand, so nah wie nie zuvor gekommen ist: "Das ist das erste Album, bei dem ich alle Gewohnheiten ablegen konnte, bei dem ich da hingehen konnte, wo ich wirklich hingehen wollte."

So stehen nun liebliche Folk-Duette mit irreführenden Titeln wie "Fuck Me" neben bedrohlichen Deklamationen wie "Chapter 19". Befreit von allen Zwängen, konkurrieren in einem Stück wie "Till The End" nun Mönchsgesänge mit zwitschernden Vögeln. Verhallte Geräusche vom Schrottplatz setzen ein, eine Akustikgitarre facht das Lagerfeuer an, aber aus dem Hintergrund dringen immer wieder bedrohliche Schatten ins Licht.

"Ich mag den Lärm"

So fröhlich geht es auch in den anderen Stücken quer durch die Musikgeschichte, hin und her zwischen U und E, die Nahtstellen entlang und ab in die toten Winkel. Tiersen kennt sowieso keine Berührungsängste; das hat er durch viele Kollaborationen mit so verschiedenen Kollegen wie der amerikanischen Singer/Songwriterin Shannon Wright, dem französischen Popstar Dominique A. oder der Schauspielerin Jane Birkin demonstriert. Mit "Dust Lane" weist er nun nach, dass ihn auch in der eigenen Musik Grenzen kein bisschen mehr interessieren.

An manchen Stellen ist gar nicht mehr vorstellbar, dass Tiersen aus den Strukturen der Minimal Music, mit Instrumenten aus der französischen Volksmusik, Harmonien aus der Weltmusik und einer Gabe für eingängige Melodien einmal jenes hochansteckende Amalgam entworfen hat, mit dem "Amélie" so fabelhaft verziert wurde.

Stattdessen ist überdeutlich zu hören, dass er eine klassische Instrumentalausbildung im Teenageralter abgebrochen und sich dann in den Rock von The Stooges und Joy Division vertieft hat. Später spielte er auch in Punkbands

"Ich mag Strawinsky und ich mag ,My Bloody Valentine'", sagt er heute, "ich mag den Lärm." So schabt in "Palestine" nun monoton die E-Gitarre, fährt die Stacheln aus, kreist selbstverloren im Kreis, immer weiter und weiter, während Tiersen stoisch den Titel des Stücks in einzelnen Buchstaben aufsagt, als wollte er im Alleingang das umkämpfte Stück Land im Nahen Osten in seine Einzelteile zerlegen.

Entstanden ist die Komposition, nachdem Tiersen in Gaza aufgetreten war. Dort war es ganz anders als auf seiner Insel, wo Tiersen, wenn der Nebel tief hängt, auf einen Hügel steigt und über den Wolken in die Sonne blinzelt. Dort war er in "einer Stadt, die ein Gefängnis ist". Er weiß von Menschen, die sein Konzert besucht haben und mittlerweile während des letzten Einmarsches der Israelis ums Leben gekommen sind.

Die Botschaft des Stücks sei aber trotzdem ganz simpel: "Palästina existiert, mehr will ich gar nicht sagen." Mehr könne ein Song wie dieser, der nahezu aus reinem Klang besteht, auch gar nicht sagen. "Ein Sound kann keine politische Botschaft transportieren", erklärt Tiersen nach langer Denkpause, "ein Sound ist nur ein Sound, aber, und das ist das Wundervolle, gerade deshalb kann er Wirkung entwickeln." Aber welche Wirkung genau? Was will Yann Tiersen der Welt mitteilen, wenn er seine Insel verlässt?

Der Künstler blickt in eine unbestimmte Ferne und schweigt. Dann denkt er nach. Dann muss er erst mal raus. Eine Zigarette rauchen. Aber vielleicht ist es auch nur ein Vorwand. Vielleicht will Yann Tiersen vor allem seine Nase in den Wind halten. Ist gerade schlechtes Wetter da draußen.

Yann Tiersen: "Dust Lane" (Mute/EMI). Auf Tour: 14. 12. Berlin, 15. 12. Darmstadt, 16. 12. Bochum, 17. 12. Nürnberg, 18. 12. Hamburg, 19. 12. Köln

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.