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Archiv-Artikel

Wunschverloren

Der gute Mensch von Hamburgs Hauptbahnhof: Siegfried Lenz’ heiter-moralischer und seltsam aus der Zeit gefallener Roman „Fundbüro“

von GERRIT BARTELS

Ach, was für eine schöne Geschichte! Eine, die so gar nicht aus den sich inmitten vermeintlicher Generationskämpfe befindenden, krisengeplagten Nullerjahren zu stammen scheint: Ein 24 Jahre junger Mann möchte auf seinen Arbeitsplatz zugunsten eines Älteren verzichten, und das, obwohl er wohl gelitten ist, gar einen Karrieresprung vor sich hat und sein Kollege durchaus sozial verträglich in den Vorruhestand geschickt werden soll. Henry heißt dieser gute Mensch von edlem Charakter, Henry Neff, Angestellter in einem Fundbüro der Deutschen Bahn und Hauptfigur von Siegfried Lenz’ neuem Roman „Fundbüro“.

Hier, im Fundbüro des Hamburger Hauptbahnhofs, treffen die Verlierer von Schirmen, Hockeyschlägern, Ringen, Puppen oder Wurfmessern auf Henry und seine Kollegen, den Fundbüro-Chef Hannes Harms, die Schriftführerin Paula und den langgedienten Mitarbeiter Albert Großmann – alles sehr sympathische Menschen, die ihr Lebenspäckchen zu tragen haben, aber nie den Mut verlieren, eher kleine Lebensverlierer als große.

Nun könnte man denken, auch Henry wäre so eine Art Verlierer, „wie auf einem Abstellgleis“ müsste er sich doch mit seinen 24 Jahren im Fundbüro vorkommen, unterstellt ihm sein neuer Chef. Henry aber sieht das überhaupt nicht so: Er wolle sich nur wohlfühlen bei der Arbeit, ansonsten sei er weitgehend ambitionslos.

Henry ist ein Hans-Guck-in-die-Luft, ein Slacker, wenn man so will, dazu ein sehr netter, gutmütiger, höflicher und treuherziger. Immerhin verpasst Lenz ihm im Verlauf seiner Geschichte eine Erziehung des Herzens, eine dezente Persönlichkeitsentwicklung: Henry begreift immer mehr von den Lebenswidrigkeiten seiner Kollegen. Und er greift zumindest verbal ein, als sein neuer Freund und Seelenverwandter, der kirgisische Mathematiker Fedor Lagutin von der Universität Saratow, das Ziel rassistischer Anfeindungen wird.

Henry stellt das Gegenmodell zum knarrend symbolträchtigen Schauplatz dar: Hier, auf dem Bahnhof und im Fundbüro, die Welt der Verlierer, die Verlorenheit der modernen Zeit, ihre Rast- und Ortlosigkeit, dort Henry, dieser wackere, aufrechte und moralisch handelnde Mensch, der die Verluste in Grenzen zu halten versucht, auch solche an Menschlichkeit.

Das Schöne an „Fundbüro“ ist, dass Lenz seine Geschichte bei aller Aufdringlichkeit seiner Metaphern und Anliegen ganz unaufdringlich entfaltet. Mit ruhiger Hand ist das Buch geschrieben, ohne große Schnörkel, gelassen, voller Hoffnung und einer eigentümlichen, alles überziehenden Heiterkeit.

Nur geht dann wiederum alles so unaufgeregt vonstatten, dass man kaum merkt, wenn plötzlich das Böse seinen Auftritt in Henrys wohlfeiler Welt hat. Wenn also die Bahn den Personalabbau in die Tat umsetzt oder die „Motorradbande“ erst Henry, dann Fedor und schließlich auch den schwarzen Postboten Joe ein jedes Mal brutaler überfällt.

Sehr schnell dagegen merkt man, eigentlich von der ersten Zeile an, wie seltsam altmodisch und fremd diese von Lenz beschriebene Welt doch ist: Die ICEs tragen ihre alten Namen wie „Friedrich Schiller“ oder „Grimmelshausen“, auch mit D-Mark wird noch bezahlt. Könnte man solche Details unter späte Neunziger abbuchen, wundert man sich aber doch über die „Studentenfete“, auf der Fedor gerade noch „Karten“ für Henry und seine Schwester Barbara bekommen hat, über die „Kapelle“, die „Rock Around The Clock“ spielt und „The Girl From Ipanema“; über die „Peterwagen“, die zu ihrem Einsatzort fahren; oder über Joe, den Postboten, der zu Henry immer sagt, wenn er keine Post hat: „Heute nix, Boss, aber das nächste Mal.“ Dazu passt schön der Besuch des Völkerkundemuseums, den Henry, seine Schwester Barbara und Fedor machen: Dort verschwindet Fedor in einem kirgisischen Stillleben, „Familie beim Zuschneiden von Stiefelleder“, wo man Baschkiren friedlich vor ihrem Festzelt sitzen sieht.

So wie Fedor in diesem Idyll verschwindet, so idyllisiert kommen einem die anständigen Menschen in Lenz’ Welt vor, so eingefroren wirkt Lenz’ Roman in der Zeit. Zwischen Wunsch und Wirklichkeit klafft hier eine große Lücke, was Lenz natürlich weiß: Als der Postbote überfallen wird, greift Henry plötzlich zum Hockeyschläger und prügelt auf die Angreifer ein – manchmal muss man einfach zuschlagen. Auch Henrys großherziges Angebot, seinen Arbeitsplatz zu räumen, nutzt am Ende nichts.

Aber man wird ja noch träumen dürfen: von einer besseren, humanistischeren Welt, in der das Böse mit aller Macht zurückgedrängt wird, sei es durch die Guten, sei es durch einen sanften Erzählstil. Nach der Lektüre dieses Buches muss man sich ordentlich zwicken und zwacken und den Balsam von der Seele streichen, um wieder in der beinharten Realität zu landen. Ach, die Welt ist gar nicht so, sie ist doch viel komplexer und reichhaltiger, als Lenz sie in „Fundbüro“ beschreibt, und das ist auch ganz gut so.

Siegfried Lenz: „Fundbüro“. Hoffmann und Campe, HH 2003, 336 S., 21,90 €