piwik no script img

Wucht und Wohllaut

■ Bremerhaven eröffnete seine Spielzeit mit zwei Herzstücken des Opernrepertoires

Im Zentrum eines italienischen Städtchens: Verwinkelte, hohe Mauern, Gässchen, rechts eine Bar, links über einem Hauseingang ein Balkon, in der Mitte eine ausladend breite und hohe Treppe, am oberen Ende eine Brüstung, darüber der Himmel. Früher Sonntagmorgen, oben steht eine Frau in schwarz, ihr Körper krümmt sich vor Schmerzen.

Die Musik von Pietro Mascagni lässt keinen Zweifel, woher die Schmerzen kommen. Im Großen Haus des Stadttheaters Bremerhaven haben Jasmin Solfaghari (Regie) und Ekkehard Kröhn (Bühne) ein Bild gebaut, das den idyllischen Rahmen für die ganz großen Gefühle hergibt. Die neue Oberspielleiterin des Stadttheaters lässt keinen Zweifel daran, dass sie sich der Macht der Musik anvertraut, die die beiden Komponisten Mascagni und Ruggiero Leoncavallo in ihren Einaktern „Cavalleria rusticana“ und „Der Bajazzo“ ausströmen. Es sind Herzstücke des traditionellen Opernrepertoires, Sensationserfolge von Anfang an, die mit der üppigen Fülle des Belcanto und den heftigen, rohen Akzenten des Verismo ein großes Publikum erobert haben.

Kein Wunder, dass ihr Erfolgsrezept noch heute aufgeht: Vor soviel Wucht und Wohllaut darf jedes Musical-Theater erblassen. „Cavalleria rusticana“ erzählt vom untreuen Ehemann Turiddu (Jorgen Talle), der mit seiner Ex-Geliebten Lola tändelt und den Liebesschmerz seiner Frau so weit steigert, bis sie ihn an Lolas Mann verrät – der wiederum Turrido im Zweikampf ersticht.

Die Szene spielt am Ostersonntag, Glocken läuten, eine Orgel und ein Chor sind zu hören, alle Bewohner sind zur Kirche unterwegs. Solfaghari macht aus diesem dramaturgischen und musikalischen Kniff ein präzises Bild. Sie setzt den Großen Chor in permanente Bewegung, läßt Kinder zwischen den festtäglich bekleideten Bewohnern herumwuseln, und macht die langsam steigende Spannnung mit wenigen Akzenten sichtbar. Vor allem vermeidet sie jede theatralische Überzeichnung. Die Sänger dürfen sich nicht in großen Posen üben. So erhalten Schmerz und Eifersucht ein irdisches Gewicht. Im Mittelpunkt steht Santuzza, der die junge bulgarische Sängerin Milena Boutaeva spielerisch und mit i warmer, voller Stimme alle Glaubwürdigkeit gibt, die der schöne Schmerzensstrom der Musik enthält. Der Wechsel zum zweiten Einakter ist kein Orts-, sondern ein Blickwechsel: Im Mittelpunkt steht hier der leidende Mann. Der „Bajazzo“ namens Canio ist Chef der Gauklertruppe, die nachmittags mit fahrender Bühne in den Ort kommt, um abends ihr Spektakel vorzuführen.

Der Einfall des Dichterkomponisten Leoncavallo besticht noch immer: Hinter dem Spiel auf der Bühne steht der Ernst des Lebens, was einer der Narren (herausragend: Alan Cemore als Tonio) dem realen Publikum im Prolog verkündet. In die Commedia vom Ehebruch bricht schlagartig die Wirklichkeit der wahren Gefühle ein. Was sich bei den Vorbereitungen zur Abendvorstellung zwischen Canios Frau Nedda (Zoya Zheleva) und einem verliebten Dorfbewohner tut, verwandelt das Spiel im Spiel in blutigen Ernst und läßt den Bajazzo zum Doppelmörder werden. Dieser Mann ist ein trauriger Mann, ein Melancholiker. Leoncavallo verurteilt ihn nicht, und Jasmin Solfaghari folgt dem Komponisten darin. Sie zeigt einen Schmerzensmann, und der Gast Lawrence Bakst darf ihn ohne überzogene Schluchzer so überzeugend singen, dass dieser Mörder mit seinem „la commedia è finita“ die Seelen rührt. Ist das im Zeitalter der Emanzipation legitim? Das Wagnis der Regisseurin besteht darin, die Opernstoffe nicht gegen den Strich zu lesen, sondern sich dem Weg der Musik zu überlassen. So werden erst die Frau und dann der Mann zum Mittelpunkt des Liebesschmerzes, beide sind Täter und Opfer zugleich. Das von Anfang an gut aufgelegte Orchester unter der zupackenden Leitung von Stephan Tetzlaff intoniert nicht nur den Schmelz des Wohllauts, sondern auch die dramatisch-heftigen Akzente und die über weite Strecken dunklen Töne präzise, ohne ins Schwülstige abzugleiten. Ein gelungener Spielzeit-Auftakt, vom Publikum mit großem Beifall aufgenommen. Hans Happel

Stadttheater Bremerhaven, Großes Haus: Cavalleria Rusticana/ Der Bajazzo (in it. Sprache). Weitere Vorstellungen: 19./21./27. September und 7./20./22. Oktober. Kartentelefon: (0471) 482060

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen