Wowereit-Nachfolge: Eine Frage des Timings
Stadtentwicklungssenator Müller will Regierungschef werden – und eröffnet damit den Dreikampf in der Berliner SPD nach Klaus Wowereits Rücktrittserklärung.
Auch Michael Müller greift nach der Macht: „Ich möchte Regierender Bürgermeister werden und für das Amt kandidieren“, sagte der 49-jährige Stadtentwicklungssenator und frühere SPD-Landeschef am Freitagmorgen vor Journalisten. Damit wird die Entscheidung über die Nachfolge von Klaus Wowereit, der für den 11. Dezember seinen Rücktritt angekündigt hat, vom Duell zum Dreikampf: Am Dienstag hatten kurz nach Wowereits Ankündigung schon Fraktionschef Raed Saleh (37) und Parteivorsitzender Jan Stöß (41) ihre Kandidatur erklärt. Die Entscheidung soll bei einer Befragung der rund 17.000 Berliner SPD-Mitglieder bis Anfang November fallen, über Details will der Landesvorstand am Montag entscheiden.
Das Timing war optimal: Hätte Müller gleich am Dienstag nachgelegt, wäre seine Bewerbung eine unter dreien gewesen, überlagert zudem von Analysen zur Rücktrittsankündigung. So aber konnten sich die Medien zwei Tage lang allein an Stöß und Saleh abarbeiten und eventuell vorhandene Defizite wie Mangel an Erfahrung oder an Format kritisieren. Wie bestellt kamen schnell auch schwache Umfragewerte, wobei sich zwei Drittel der Berliner für keinen von beiden aussprachen. Und schließlich konnte Müller durch sein Timing nur sieben Stunden nach seiner Erklärung im Mittelpunkt des SPD-Sommerfests am Freitagabend stehen. Als Reaktion auf Müllers Bewerbung äußerten Stöß und Saleh fast gleichlautend, sie würden sich auf einen fairen Wettstreit freuen.
Die Kandidatur war zunehmend erwartet worden. Umso mehr, nachdem sich die Parteispitze am Dienstag grundsätzlich auf ein Mitgliedervotum festlegte, bei dem Müller weit bessere Chancen eingeräumt werden als bei einem Parteitagsvotum mit nur 220 weitgehend in ihren Präferenzen festgelegten Delegierten. Müller hatte vor Monaten schon in der sich zuspitzenden Debatte über ein Abtreten von Wowereit durchblicken lassen, dass er interessiert wäre. Zudem hatte er in Parlamentsauftritten sehr deutlich gemacht, dass er sich nicht auf sein Senatsressort, die Stadtentwicklungspolitik, beschränken wolle. In einer kurzen Begründung seiner Kandidatur hob Müller vor allem seine Erfahrung in Führungsposten sowohl in der Fraktion als auch in Partei und Regierung hervor: Er führte bis 2011 – als Nachfolger von Wowereit – zehn Jahre die SPD im Abgeordnetenhaus, leitete bis 2012 zudem acht Jahre den Landesverband und gehört seit drei Jahren dem Senat an. Müller war sichtlich bemüht, keine Negativbotschaften zu senden und keine Mankos seiner Konkurrenten Saleh und Stöß herauszustellen. Im Gegenteil: Beide würden „in ihren Funktionen hervorragende Arbeit machen“, sagte er. Eine kleine Stichelei erlaubte er sich aber doch: „Es gab gar keinen Grund, innerhalb weniger Stunden auf alles eine Antwort zu geben“, sagte er über den Zeitpunkt seiner Kandidatur – Saleh hatte sich schon am Dienstag und kaum eineinhalb Stunden nach Wowereits Ankündigung erklärt, Stöß keine vier Stunden später. Eine Spaltung der Partei durch den anstehenden Dreikampf, der vor einem ohnehin geplanten Landesparteitag am 8. November entschieden sein soll, sieht Müller nicht als zwingend: „Es kommt auch sehr darauf an, wie die drei Kandidaten miteinander umgehen.“ Er wies Vermutungen zurück, mit seiner Bewerbung wolle er auch noch eine offene Rechnung begleichen. Stöß hatte ihn bei einem Parteitag im Juni 2012 mithilfe von Saleh aus dem Amt gedrängt. „Es geht allein um das Amt und nicht um alte Geschichten“, sagte Müller. Der Fraktionsvorsitzende, der Parteichef und er hätten in den vergangenen zwei Jahren bewiesen, dass sie miteinander arbeiten können.
Arrangiert haben will er sich auch mit dem parteilosen, aber von der SPD-Seite berufenen Finanzsenator Ulrich Nußbaum – der Dauerstreit der beiden hemmte lange wichtige Entscheidungen, vor allem in der Liegenschaftspolitik. Auf die Frage, ob Nußbaum mit ihm als Regierungschef noch eine Zukunft im Senat habe, sagte Müller: „Wir haben eine konstruktive Basis gefunden.“ Grundsätzlich sei man als neuer Regierungschef „gut beraten, ein funktionierendes Team nicht ohne Not infrage zu stellen“. Während Saleh und Stöß zwar die bis 2016 vereinbarte Koalition mit der CDU fortführen wollen, aber grundsätzlich als klare Anhänger eines rot-grünen oder rot-rot-grünen Bündnisses gelten, mochte sich Müller nicht festlegen. „Das kann keiner beantworten, das ist Kaffeesatzleserei“, sagt er. Entscheidend sei, eine stabile, regierungsfähige Mehrheit zu haben. Sein Verhältnis zum CDU-Vorsitzenden Frank Henkel als Chef des Koalitionspartners nannte er „ganz entspannt“. Beide seien schon gut miteinander umgegangen, als sie bis 2011 Fraktionschefs im Abgeordnetenhaus waren, obwohl die CDU damals noch in der Opposition war.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland