: Wohnen im Schrank
■ Olga Tokarczuk liest in Hamburg
Sie ist weder shooting-star noch Kultautorin; solch synthetische Begriffe passen einfach nicht auf Olga Tokarczuk. Die 37-Jährige, die heute in Hamburg liest, ist nämlich schlicht eine schreibsüchtige polnische Schriftstellerin der Generation nach '89, die sich ins schlesische Eulengebirge zurückgezogen hat und die – wie ihr Landsmann Andrzej Stasiuk, der in den Beskiden lebt – findet, dass es sich im Grenzland intensiver lebt und schreibt. „Aus dem Dorf ändert sich der Blick auf die Stadt“, sagt Tokar-czuk, und der Mikrokosmos Dorfgemeinschaft ist auch zentrales Thema ihrer Erzählungen – vereint in dem Band Der Schrank – und ihres jüngst auf Deutsch erschienenen Romans Ur und andere Zeiten.
Von bizarren Anwandlungen (etwa des Ehepaars, das im Schrank wohnt) und lakonischen Engeln wird man bei ihr nicht verschont bleiben. Denn Tokarczuk hält sich nicht an die westlichen Vorgaben dekonstruierenden oder lifestyledurchtränkten Schreibens, sondern schafft eine Mixtur aus Traum und Wirklichkeit. Und selbst wenn man bedenkt, dass Spurensuche im Grenzland in Polen derzeit ein bisschen in Mode ist, kann sich auf polnischen Patriotismus allein der internationale Erfolg der Autorin nicht gründen. Was Tokarczuks Texte bieten, ist vielmehr eine subtile Psychologie, die weder profan noch symbolüberladen ist, sondern elegant und en passant, hart auf der Grenze zur Banalität, in Nebensätzen Grundlegendes durchscheinen lässt. Im Schnee in die Fußstapfen der Mutter zu treten „war leichter“, heißt es zum Beispiel in der Erzählung Sauermehlsuppe – und damit ist auch schon genug an Andeutung geleistet.
„Wirklichkeit wird von anderen geformt“, sagt Tokarczuk, und man muss sehen, wie man sich möglichst beulenfrei mit ihr arrangiert. Und genau das versuchen Olga Tokarczuks Figuren: Wenn die behinderte junge Mutter einen Vater für ihr Kind braucht und suchend durchs Dorf wankt... na, dann findet sich eben einer – nicht als Erzeuger, aber als Adoptivvater für das Neugeborene, schlicht aus Solidarität und Pragmatismus.
Und wenn Tokarczuk von ihrer Großmutter einzig eine Kaffeemaschine aus der Vergangenheit mitgebracht bekommen hat, dann macht sie sie eben unverfroren zum Zentralsymbol ihres Ur-Romans, weil das schnarrende Gerät die verfließende Zeit so plastisch veranschaulicht – eingebettet in eine traumverlorene Welt, die auf engstem Raum das gesamte Panoptikum menschlicher Verrücktheitsvarianten vereint. Petra Schellen
Lesung heute, 19 Uhr, Katholische Akademie, Herrengraben 4
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