Wochen-Post: Alles muß man selber machen
■ Berlin wächst doch – das Wunder des Babybooms in der depressiven Hauptstadt
Die Zukunft ist immer ganz anders. Die Leute ernähren sich von Pillen. Maschinen erledigen die Hausarbeit: So stellten wir uns das vor, und so kam es ja auch. Nur, daß gutes Essen immer noch sorgfältig eingekauft, zubereitet und serviert wird, und daß der Geschlechterkrieg nicht mehr ums Abwaschen, sondern darum geht, wer die Spülmaschine be- und entlädt.
Berlins Zukunft stellen sich die meisten so vor, wie seine Vergangenheit war. Peter Glotz sieht die Braunhemden durchs Brandenburger Tor grölen und fürchtet sich vorm preußischen Moloch. Wolf Jobst Siedler schildert mürb-elegisch den einen Sommer, in dem Brandenburg tanzte, und wer heute am Brandenburger Tor steht, zitiert eher Liebermanns „Kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte“ als Joseph Goebbels.
Im 4. Stock am Checkpoint Charlie, beim American Business Center, verkaufen körnige alte Fotos vom Potsdamer, vom Leipziger Platz die Idee einer Gründerzeit in Berlin. Magnificent!
Von wegen. Berlin ißt Kebab. Astronautennahrung bekommen die Schwerkranken auf der Intensivstation. Das neue Berlin kommt mit der Schneckenpost, da sollen die alten Mythen ruhig Purzelbäume schlagen.
Die Prognosen sind kleinlaut geworden, der Umzug in die Brandenburg-Eigenheime ist unaufhaltsam, die Ankunft „der Bonner“ verzögert sich. Das große Berlin schrumpft. Die mauligen Eingeborenen wußten's immer. Uns hat noch jeder hängen lassen.
Stimmt doch gar nicht. Um fast 12 Prozent stieg 1996 die Geburtenrate in Ostberlin, und sogar in Westberlin wuchs sie um fast vier Prozent. Alles muß man selbst machen, sogar das Wunder eines Babybooms im depressiven Berlin.
Die Wissenschaftler sagen, es hat sie nicht gewundert, denn Elternuhren tickten jetzt im Osten wie im Westen: Erst Job, dann Kinder, dann erwachsen werden. Komisch, daß man so etwas verhersagen kann, aber keiner was drauf wetten würde, ob es die PDS in zehn Jahren noch gibt. Das gegenwärtige Berlin zerstört seine eigenen Mythen. Alle schmachten nach neuen Eliten, gewählt wird regelmäßig Diepgen. Nach jeder Landtagswahl muß den Westlern die PDS erklärt werden, und die erklärt ihre Existenz mit der schlechten Lage, aber die 8.700 Ostberliner Babies sprechen nicht gerade die Sprache der Depression.
So viel Vergangenheit, so strahlende Zukunft – im Präsens tut Berlin, was es am allerbesten kann. Es genießt die Wonnen der Gewöhnlichkeit. Es hat sie verdient.
Schade nur eins. Die 8.700 Babies werden einen anderen, einen Nach-89er Mythos stärken: Daß der Sex im Osten besser sei. Mechthild Küpper
wird fortgesetzt
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