piwik no script img

Wo die Fernseher singen

Der italienische Romancier Claudio Piersanti beschreibt eine Kleinbürgerin, die aus der Welt fällt. Ihre Bewunderung gilt einem alten Mann, der eines Nachts auf die lärmenden Jungen unter seinem Fenster schießt: „Luisa und die Stille“

Es schadet nicht, während der Lektüre dieses Buches Ohrenstöpsel zu tragen. Am besten die weichen, aus Schaumstoff gefertigten, die man zusammendreht, bevor man sie in den Gehörgang steckt. Das schützt vor musizierenden Nachbarn oder dem Verkehr unterm Fenster und schafft damit die Ruhe, nach der sich Luisa, die Protagonistin von Claudio Piersantis Roman „Luisa und die Stille“, so sehr sehnt. Als Nebeneffekt kommt eine kleine Anverwandlung hinzu. Denn das weiche Material im Ohr gibt eine Ahnung von dem, was Luisas Leben kennzeichnet: Diese Frau schirmt sich ab von der Welt, zieht sich in sich zurück, entfernt sich von den Menschen. Natürlich fördert es auch, dass man sich ins Buch versenkt. Wobei dafür das Hilfsmittel nicht nötig wäre: Piersantis Roman schlägt so in den Bann, dass man die Welt um sich herum von ganz allein vergisst.

Luisa ist sechzig und lebt allein im Zentrum einer norditalienischen Stadt. Sie arbeitet als Buchhalterin in einer Spielzeugfabrik. Außer ihren Arbeitskollegen hat sie kaum Bekannte. Sie besitzt einen Kanarienvogel und eine wertvolle Puppe, die ihr vom Sofa her böse Blicke zuwirft. Freunde sind ihr fremd. Die Eltern sind schon lange tot, ihren Ehemann hat sie verlassen; was ihr bleibt, ist eine Cousine, von der sie zu schlecht denkt, als dass sie sie häufig träfe. Bruno, der Exmann, hat viele Auftritte in ihrer Fantasie und einen in ihrer Wohnung, Laura, einer Zufallsbekanntschaft, begegnet sie trotz deren Freundlichkeit mit Kälte. Später – Luisa ist mittlerweile in Rente gegangen und mag das Haus nicht mehr verlassen – ist ihr einziger Kontakt der Bote des Lebensmittelladens.

Piersanti zeichnet ein Porträt, das Sympathien weckt und gleich darauf wieder löscht. Die Hauptfigur ist eine zu kurz gekommene Kleinbürgerin, manchmal schüchtern und kleinlaut, unfähig, sich durchzusetzen. „Wenn sie ein Mann wäre, würde sie aussteigen und ihn ohrfeigen“, heißt es einmal, als jemand in der Zufahrt zu ihrer Garage parkt. Mehr als vorwurfsvolle Blicke indes bringt sie nicht zuwege; die Allmachtswünsche und die reale Ohnmacht stehen dicht beieinander. Dann wieder ist Luisa herrisch, unausstehlich, verbohrt, eine kleine Spießerin, deren Ordnungssinn ins Maßlose umschlägt. Ihre Bewunderung gehört einem alten Mann, der eines Nachts auf die lärmenden Jungen unter seinem Fenster schießt. In einem Verteidigungsschreiben, das Luisa in ihrer Imagination verfasst, heißt es: „Herr Richter, Sie begehen eine schwere Ungerechtigkeit an diesem Mann, sie behandeln ihn wie einen Verbrecher, dabei ist er einer der letzten anständigen Menschen in der Stadt. Einer, der niemals geschrien hat, nicht einmal im privatesten Raum seiner Wohnung, einer, der über Ihnen wohnen kann, ohne dass Sie seine Anwesenheit bemerken. Und das könnte man auch von mir sagen: eine, deren Anwesenheit man nicht bemerkt. Filzpantoffeln, Herr Richter. Die Wasserspülung höchstens bis Mitternacht.“

Knapp zweieinhalb Jahre lang begleitet der Roman seine Protagonistin. Bald rafft er die Zeit, bald dehnt er sie; mal nimmt er sich zur Schilderung eines Arbeitstages zwei Kapitel, mal werden Monate übersprungen. Piersanti legt Wert auf Anschaulichkeit, auf die Beschreibung von Farben, Gerüchen und Geräuschen. Sollten die Umrisse einmal doch verwischen, so liegt das daran, dass „Luisa und die Stille“ der Wahrnehmung der Protagonistin folgt. Dazu gehört auch, dass sich die Konturen des Realen verschieben. Unheimliches passiert, Stimmen sind zu hören, Fenster und Türen stehen offen, im Nebenzimmer ist jemand, auf der Straße riecht es nach Urin und Kot. All dies sind deutliche, wenn auch sparsam eingesetzte Hinweise darauf, dass eine alte Frau aus der Wirklichkeit fällt. Ob dieser Fall aufgefangen wird oder nicht, lässt der Roman lange offen. Am Ende ist fast alles wie immer: „Die jungen Burschen schrien, die Fernseher brüllten und sangen aus tausend Wohnungen.“ Nur, dass Luisa sich jetzt nicht mehr daran stört.

CRISTINA NORD

Claudio Piersanti: „Luisa und die Stille“. Aus dem Italienischen von Michael von Killisch-Horn. Residenz Verlag, Salzburg und Wien 2000, 244 Seiten, 38 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen