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Wissenschaftsfreiheit an der Uni HamburgAlle Macht den Argumenten

Die Universität Hamburg hat sich einen „Kodex Wissenschaftsfreiheit“ gegeben. Sie möchte damit Einflussnahmen und Denkverboten entgegentreten.

Kodexkonform? Protest in der Antrittsvorlesung von Bernd Lucke in der Uni Hamburg im Oktober 2019 Foto: Markus Scholz / dpa

Osnabrück taz | Meinungsfreiheit. Dieses Wort fällt derzeit häufiger als gewöhnlich, zumal im überhitzten Streit um die Deutungshoheit zu Covid-19. Pressefreiheit sowieso, im Kampf der Telegram-Demagogen gegen die klassischen Medien. Kunstfreiheit ebenfalls, spätestens seit der Berliner Staatsschutz sich jüngst entschied, Objekte des Zentrums für Politische Schönheit zu durchsuchen, des „radikalen Flügels des Humanismus“, wegen dessen provokanter Anti-AfD-Arbeit.

Aber damit enden die Freiheiten nicht, die uns Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert. „Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“, steht in Absatz 3.

Verständlich also, dass sich 2019, zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes, eine Allianz von Wissenschaftsorganisationen bildete, von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung bis zur Deutschen Forschungsgemeinschaft, von der Max-Planck-Gesellschaft bis zur Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, um in der Kampagne „Freiheit ist unser System. Gemeinsam für die Wissenschaft“ ein Zeichen zu setzen „gegen Einschränkungen und Einflussnahmen, die vielerorts an Boden gewinnen“.

Auch die Universität Hamburg sieht offenbar Gefahr im Verzug. Jüngst hat sie den „Kodex Wissenschaftsfreiheit“ in ihr Leitbild implementiert. Im Auftrag des Akademischen Senats und des Präsidiums hat eine 14-köpfige Kommission ihn erarbeitet, von Oktober 2019 bis Mai 2021.

Die meisten Menschen haben das einfach nicht auf dem Schirm. Wer weiß schon, wie Wissenschaft funktioniert?

Hans-Heinrich Trute, Jurist und Kommissionsvorsitzender

„Danach hat es sich dann, wie das manchmal so ist, bis zur Umsetzung leider noch etwas hingezogen“, sagt Prof. Dr. Hans-Heinrich Trute, Fakultät für Rechtswissenschaft und Vorsitzender der Kommission, der taz. „Kollegen aus Philosophie und Medizin haben zusammengearbeitet, aus Theologie und Erziehungswissenschaft, dazu Vertreter der Studierendenschaft, des Akademischen Mittelbaus und der Verwaltung. Das war ein sehr spannender, in Teilen durchaus auch streitiger Diskussions- und wechselseitiger Lernprozess. Da sieht man dann plötzlich Dinge, die man vorher in dieser Deutlichkeit und Brisanz noch gar nicht wahrgenommen hat.“

Der Kodex tritt dem Versuch entgegen, „Argumente durch Macht zu ersetzen“, so Trute. „Da treten dann allgemeine gesellschaftliche Konfliktlinien zutage, und mitunter wird die Hochschule dadurch zum Kampffeld.“

Besonders augenfällig: Der Fall von Bernd Lucke, Professor für Makroökonomie an der Universität Hamburg und ehemaliger Spitzenpolitiker der AfD, dessen Vorlesungen 2019 durch Proteste gecrasht wurden. „Das ist dann das Gegenteil von Wissenschaft“, sagt Trute. „Egal, wie man zu Lucke steht. Solange er den Hörsaal nicht für politische Predigten missbraucht, muss man das aushalten können.“ Pause. „Es gab auch den Fall einer Nachwuchswissenschaftlerin, die von einem ehemaligen Beauftragten der Bundesregierung wohl ganz unverhohlen unter Druck gesetzt wurde. Solche Sachen passieren immer wieder.“

Dass der Kodex jetzt im Leitbild der Universität steht, heißt allerdings nicht, dass die Arbeit mit ihm beendet ist. „Das muss jetzt mit Leben gefüllt werden“, sagt Trute. „Vielleicht gibt es eine Vorlesungsreihe dazu, Seminare in den Fakultäten.“

In elf Kernthesen definiert der Kodex den „Freiraum der Wissenschaft“, und die Universität Hamburg ist da bundesweit Vorreiter.

Einzelnes an diesen Thesen und ihren Erläuterungen klingt ein wenig redundant. Etwa bei Kernthese X., „Bedeutung von Ressourcen-Entscheidungen“. Sie beginnt mit: „Die Freiheit der Wissenschaft stößt dort an praktische Grenzen, wo aufgrund fehlender oder unzureichender Mittel Forschungsfragen gar nicht oder nur beschränkt verfolgt werden können.“ Und die Erläuterung beginnt mit: „Die zur Verfügung stehenden Ressourcen haben einen direkten Einfluss darauf, ob, in welcher Weise und in welchem Umfang akademische Freiheiten in Forschung und Lehre real wahrgenommen werden können.“

Aber der Großteil hat Kraft. Da liest man dann, „dass eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- und politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen freie Wissenschaft Staat und Gesellschaft letztlich am besten dient“. Oder dass Forschung „vielfach auf kritische Befragung gesellschaftlicher Verhältnisse“ zielt und versucht, „Impulse für deren Änderung zu setzen“.

Ethik ist Sache der Forschenden

Besonders herausfordernd wird es bei Kernthese V., „Missbrauch von Forschungsergebnissen“. „Die Möglichkeit einer missbräuchlichen Verwendung der in der Forschung gewonnenen Erkenntnisse durch Dritte“, steht hier, rechtfertige keine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit. Neues Wissen schade nicht. Ethische Erwägungen allein vermöchten „eine rechtliche Einschränkung der Freiheit nicht zu rechtfertigen“.

Von besonderer Tragweite ist die Überzeugung: „Die Grenzziehung kann letztlich nur durch Selbstreflexion der Wissenschaft­ler:innen erfolgen und nicht durch von außen aufgeprägte Normen.“ Und was, wenn es diese Wis­sen­schaft­le­r:in­nen an „Rechenschaft über die Folgen des eigenen Handelns“ fehlen lassen?

Dass Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit in aller Munde sind, die Wissenschaftsfreiheit jedoch nicht, erklärt Trute so: „Die meisten Menschen haben das einfach nicht auf dem Schirm. Wer weiß schon, wie Wissenschaft funktioniert? Was da passiert, ist ja oft sehr opak.“ Dass das Verständnis für Wissenschaft so gering sei, sieht er auch als Fehler der Wissenschaft: „Wir müssen besser kommunizieren, was wir tun.“

Vielleicht kommt es ja mit dem „Kodex Wissenschaftsfreiheit“ wie mit dem „Verhaltenskodex zur Religionsausübung“, der ebenfalls Teil des Leitbilds der Universität Hamburg ist. „Der hat wirklich Kreise gezogen“, sagt Trute. „Bis nach Österreich, bis in die Schweiz.“

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