Wissenschaftliche Revolution aus Kiel: „Lebensgemeinschaft mit Bakterien“
Der Mensch sei kein Individuum, sagt der Kieler Evolutionsbiologe Thomas Bosch. Er erforscht wie wir mit Mikroorganismen zusammenleben.
taz: Herr Bosch, was bin ich?
Thomas Bosch: Sie sind zu 90 Prozent mikrobiell und noch viel mehr aus Viren bestehend.
Auf die Masse bezogen oder auf die Zellanzahl?
Wir haben mindestens so viele Bakterienzellen wie unsere eigenen und viel mehr bakterielle als eigene Gene in uns. Das Ganze ist eine Lebensgemeinschaft.
Sie haben in einem Essay postuliert, dass man deswegen nicht mehr von dem Menschen als Individuum sprechen könne.
Wir haben angefangen mit dem Interesse, fundamentale Prozesse des Lebens zu verstehen. Das tut man am besten reduktionistisch, konzentriert auf einen bestimmten Prozess in einem einfachen System. Revolutioniert wurde das um das Jahr 2000 durch eine technische Neuerung in der Biologie: die Gen-Sequenzierung.
62, ist Professor für Zell- und Entwicklungsbiologie und Direktor des Zoologisches Instituts der Universität zu Kiel. Er ist international erfolgreich und mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ehrendoktor der Staatlichen Universität St. Petersburg. Zudem ist er Chefredakteur der Zeitschrift Zoology.
Was hat sich dadurch verändert?
Wir waren überrascht von der Möglichkeit, Erbinformationen und damit Spuren von Lebewesen quantitativ entdecken zu können. Man konnte bis vor 2000 natürlich auch Erbinformationen gewinnen. Doch allein das Genom unseres sehr einfachen Modellorganismus Hydra zu sequenzieren, hat 20 Millionen Dollar gekostet. Heute machen wir so etwas jeden Tag und es kostet noch ein paar Hundert oder vielleicht ein paar Tausend Dollar. Das hat plötzlich gezeigt, dass die Oberflächen von Menschen, Tieren und Pflanzen ständig besiedelt sind.
Das heißt, man hat diese Viecher nicht gesehen, sondern man schließt aus dem Vorhandensein von Genmaterial, dass es sie gibt.
Durch nachgeschaltete Methoden wie die Elektronenmikroskopie können wir diese kleinen Organismen heute auch sehen. Aber ursprünglich war das tatsächlich so, dass uns die Sequenzierinformation die Augen geöffnet hat: Ich gebe ein Stück Haut, ein Stück Darm in die Maschine hinein und die kann mir sehr genau sagen: Das ist Erbsubstanz von der Haut, von dem Menschen oder von der Hydra. Diese Analysen zeigten uns: Da ist hundertmal mehr Erbsubstanz von Bakterien dabei als aus dem eigentlichen Gewebe. Am Anfang tut man so etwas ab als Kontamination, aber wenn man sorgfältig arbeitet und immer wieder das Gleiche findet, wird man stutzig. So kam es, dass wir und viele andere gemerkt haben, dass das kein Zufall ist.
Sie haben daraus weitreichende Schlüsse gezogen.
Wenn das Stückchen Haut oder Fäces, das ich sequenziere – nicht nur von Ihnen oder von mir, sondern von Dutzenden von Menschen – immer wieder ähnliche Muster ergibt, dann muss das stabil mit dem Organismus zusammenhängen.
Das heißt, jeder Organismus hat eine eigene Gemeinschaft von Mikroorganismen.
Jedes Individuum. Es gilt aber auch, dass jede Tierart ihre spezifische Gemeinschaft von Mikroorganismen hat – ein Mikrobiom. Und wenn Sie heute ins Ausland fliegen und wir würden drei Wochen später Ihr Mikrobiom bestimmen, wäre das leicht anders als heute, weil die Ernährung einen Einfluss hat. Das heißt, es gibt ein Kernmikrobiom, das dynamisch ist und das sich im Laufe unserer Lebenszeit ändert. Bakterien scheinen kausal am Alterungsprozess beteiligt zu sein. Und nicht nur die Oberflächen von Tieren und Pflanzen sind besiedelt: Wenn sie ein Blatt aufschneiden, kriechen da Hunderte und Aberhunderte von Mikroorganismen raus.
Leute, die biologische Landwirtschaft betreiben, sprechen ja schon lange davon, dass es auf die Mikroorganismen im Boden ankomme.
Bei der Pflanzenzucht wird alles auf die Genetik ausgerichtet. Dabei ist die Genetik nur ein ganz kleiner Teil und die Umwelt, der Boden, die Mikroorganismen im Boden, auf den Blattoberflächen, in den Blättern oder in den Wurzeln sind entscheidend für die Fitness und damit für die Ertragsfähigkeit.
Inwiefern beeinflussen diese Mikroorganismen die Pflanzen?
Da kommt eine dritte Revolution in der Technik hinzu – neben der Sequenzierung der Erbinformation und dem mikroskopischen Sichtbarmachen: die Fähigkeit, dass wir Organismen heute keimfrei halten können. Das erste, was der Biologe merkt, ist: So etwas gibt es in der Natur nicht. Tiere, die man keimfrei macht, sind in der Physiologie, in der Fitness, im Wachstum, im Verhalten erheblich verändert im Vergleich zu Kontrolltieren.
Was heißt das fürs Krankenhaus, einen Raum, den man versucht, keimfrei zu halten?
Der Blick der Mikrobiologen war bisher ausschließlich auf Krankheitserreger gerichtet. Wir wissen heute: Es gibt etwa 200 wirkliche Krankheitserreger und Billionen von Bakterien und all die, die mit uns leben, sind gutartig. Das heißt, ein weiterer Paradigmenwechsel findet derzeit statt: Wir lassen die pathogenen Mikroben als Ausnahme zwar nicht außer Acht, konzentrieren uns aber auf die gutartigen Mikroben, die wir noch gar nicht verstehen. Unsere neue Sicht ist, dass alle unsere Organe mit einer spezifischen Bakterienpopulation besiedelt sind, die wir als einen Filter ansehen, der dafür sorgt, dass Krankheitserreger nur schwer Zugang zum Gewebe haben. Wir wissen heute, dass eine Störung des natürlichen Mikrobioms diesen Filter durchlöchert.
Das heißt ja, gerade ein Antibiotikum würde mich anfällig machen.
Durch jede Antibiotikagabe störe ich dieses Gesamtmikrobiom. Mein Kollege Martin Blaser hat in seinem Buch „Missing Microbes“ deutlich gemacht, was die Zunahme der Antibiotika seit dem Zweiten Weltkrieg für uns bedeutet. Er erklärt damit die vielen neuen Krankheiten: entzündliche Darmerkrankungen, Hauterkrankungen, neurodegenerative Erkrankungen – all diese chronischen Krankheiten lassen sich möglicherweise auf diese Zunahme an Antibiotika zurückführen. Das heißt aber nicht, dass man keine Antibiotika nehmen sollte, wenn man einen wirklichen Krankheitserreger hat. Das heißt nur, man muss sich bewusst sein, was man tut.
Welche Rolle spielt dabei mein Immunsystem?
Hier findet ein weiterer Paradigmenwechsel statt. Bis 2013 galt die Vorstellung, das Immunsystem wäre zur Abwehr von Krankheiten da. Heute wissen wir, dass es dazu da ist, diese gutartigen Mikroben in einer bestimmten Zusammensetzung zu halten. Es gibt viel zu wenige Krankheitskeime, als dass man erklären könnte, warum selbst so einfache Organismen wie die Hydra 30 Prozent ihrer gesamten aktiven Gene für eine Armada an Immunmolekülen einsetzen. So sind wir zu der These gekommen, dass das Immunsystem der wesentliche Gestalter dieses Metaorganismus aus dem Wirt und seiner Mikrobenpopulation ist.
Ist das in der Medizin angekommen?
Die Dermatologie weiß sehr genau, dass ein gestörtes Mikrobiom fatale Konsequenzen hat. In vielen Fällen ist die Kausalität aber noch nicht wirklich klar. Wir ahnen die kausale Rolle des Mikrobioms bei entzündlichen Darmerkrankungen, weil es eine seltsame, aber sehr erfolgreiche Therapie gibt: die fäkale mikrobielle Transplantation. Man nimmt den Stuhl eines sogenannten gesunden Spenders und injiziert ihn in den Darm des Patienten. In vielen Fällen führt das zu einer Linderung seiner Symptome. Und weil wir wissen, dass das Einzige, was im Stuhl wirklich drin ist, Bruchstücke, Komponenten oder Stoffwechselprodukte von Bakterien sind, ahnen wir, dass ein Ungleichgewicht hier zu diesem Krankheitsbild führt.
Das heißt, es sind gar keine Bakterien im Darm?
Doch, es gibt jede Menge davon. Diese Bakterien verdauen unsere Nahrung und sondern Stoffwechselprodukte ab. Diese kleinen abgesonderten Moleküle sind wesentlich an der Kommunikation mit unseren Darmzellen, vermutlich auch mit unseren Hautzellen und – ganz spannend – mit unseren Nervenzellen beteiligt. Wir haben vor Kurzem gezeigt, dass die Darmperistaltik, das unbewusste rhythmische Zusammenziehen des Darms, beeinflusst wird von den Bakterien. Wenn wir die Bakterien wegnehmen, hört die rhythmische Periodizität der Darmpumpen auf. Und wenn wir sie wieder dazugeben, kommt das wieder. Selbst wenn wir Extrakte von Bakterien zugeben, können wir diesen Effekt retten.
Wie haben Sie das festgestellt?
Im Tierversuch mit keimfreien Süßwasserpolypen. Dass die Abwesenheit von Bakterien im Darm zu diesen Rhythmusstörungen führt, beweist uns, dass es eine direkte Kommunikation zum Nervensystem gibt. Andere Kollegen haben gezeigt, dass sich keimfreie Mäuse in puncto Ängstlichkeit völlig anders verhalten als normale Mäuse. Wir können dieses Verhalten manipulieren, indem wir in den Mäusen Bakterien zurückgeben.
Von wegen „alles nur Elektrik …“
Für Biologen ergibt sich ein ganz neues logisches Bild von Lebensprozessen. Diese funktionieren ganz eng getaktet mit vielen, vielen anderen Organismen. Die ersten vielzelligen Organismen sind vielleicht 450 Millionen Jahre alt. 3,5 Milliarden Jahre vorher gab es schon ein komplexes Netzwerk von Bakterien und Viren. Die haben all das schon gelernt, was wir jetzt auch können: Sie haben gelernt, miteinander zu reden, sie haben Moleküle, sie versuchen einander auszustechen oder arbeiten zusammen. Auf diesem Biofilm haben sich komplexe Lebensformen wie vielzellige Tiere und Pflanzen entwickelt. Dass die Lebensprozesse ohne diese Mikroorganismen nicht ablaufen, war uns vor zehn Jahren nicht bewusst.
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