Wissenschaftler über Netzausbau: „Neue Leitungen für Braunkohle“
Es werden mehr Stromtrassen gebaut als nötig, kritisiert der Wissenschaftler Lorenz Jarass. Die Bürgerbeteiligung legitimiert diesen Fehler.
taz: Ungeheure Datenflut, kompliziertes Verfahren: Ist die Bürgerbeteiligung zum Netzausbau nur eine Farce?
Lorenz Jarass: Sie ist ein geschickter Schachzug von denen, die einen massiven Netzausbau wollen. Die Beteiligung läuft im Vorfeld, und kaum einer interessiert sich dann dafür. Wenn alles abgeschlossen und genehmigt ist, dann erst werden die Trassen in einem zweiten Energieleitungsausbaugesetz festgeschrieben.
Im ersten Gesetz steht jetzt schon jetzt drin: 850 Kilometer sind energiewirtschaftlich erforderlich, es ist nicht mehr Aufgabe von Planungsbehörden oder Gerichten, das zu untersuchen. Sprich: An den Leitungen ist nichts mehr zu ändern.
Die Rede ist von bis zu 4.900 Kilometern neuer Hochspannungsnetze. Brauchen wir so viel?
Nein, das sagt sogar die Bundesnetzagentur selbst. Im neuen Netzentwicklungsplan steht: Wenn wir nicht davon ausgehen, dass jede Kilowattstunde Windstrom auch genutzt werden soll, dann brauchen wir viel weniger Netze. Momentan werden die Trassen darauf ausgelegt, dass für eine ein oder zwei Mal im Jahr auftretende Windspitze in der Nordsee jede Kilowattstunde abtransportiert werden kann. Das ist volkswirtschaftlich unzumutbar und damit rechtswidrig.
Wer soll denn ein Interesse daran haben, dass zu viel Leitungen gebaut werden?
, 61, ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Hochschule RheinMain. 2012 veröffentlichte er das Buch: „Welchen Netzumbau erfordert die Energiewende?“
Da geht es um Grundfragen der Energiewende. Momentan ist die Lage so, dass auch fossile Kraftwerke einen Anspruch haben, ihren Strom abzusetzen. Wir werden aber immer wieder mehr Strom haben, als wir brauchen.
Das heißt konkret?
Nehmen Sie die Leitungen, die von Ostdeutschland nach Bayern verlegt werden. Die braucht man, weil wir im Osten viel Windkraft haben und parallel Braunkohlekraftwerke. Auch die sollen weiterhin ausgelastet sein. Auch bei starkem Wind, wenn im Netz nicht Platz für Wind- und Kohlestrom ist. Plakativ gesagt: Die ostdeutschen Leitungen sind für die Braunkohle.
Wie viele Netze braucht man denn wirklich?
Das ist schwer genau zu beziffern. Aber wir könnten den Bedarf dramatisch verringern. Momentan wird nach einem Modell der RWTH Aachen rein marktwirtschaftlich gerechnet: Der Strom für Süddeutschland soll beispielsweise möglichst günstig produziert werden. Dann landen Sie bei einem Kohlekraftwerk im Norden, das billiger ist als ein teures Gaskraftwerk im Süden.
Was schlägt das Modell vor?
Nimm den Strom im Norden und bau eine zusätzliche Leitung. Allerdings werden die Kosten für die neue Trasse nicht berücksichtigt. Würde man das mit einberechnen, dann wäre vielleicht ein Reservekraftwerk im Süden billiger als eine neue Leitung. Das wird nicht einmal geprüft.
Die Netzbetreiber bekommen staatlich garantierte Renditen für ihre neuen Netze und berechnen zudem, wie viel wir verbrauchen. Ein Interessenkonflikt?
Das kann man so sehen. Die haben ein Interesse, das Netz möglichst weit auszubauen.
Muss die Netzplanung also von vorn losgehen?
Nein. Positiv gesprochen ist der Netzentwicklungsplan absolut sinnvoll, weil er sämtliche Vorhaben zusammenführt und koordiniert. Er hat aber eine Reihe von unsinnigen Annahmen, ohne die wir mit wesentlich weniger Leitungen auskommen würden. Dazu gehört auch, dass wir Strom exportieren wollen.
Die Betreiber von Kohlekraftwerken sagen: Wir wollen nicht gezwungen werden, herunterzufahren, wenn wir genug erneuerbaren Strom haben, sondern unseren Strom ins Ausland verkaufen. Deshalb brauchen wir so viele Leitungen. Der Stromkunde hat dabei nichts mitzureden. Der muss eben zahlen.
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