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Wischerei Handys im Unterricht sind an den meisten Schulen verboten – bei Herrn Kück sind sie Pflicht. Im Lehrerzimmer macht er sich damit nicht nur Freunde. Wie geht der Unterricht der Zukunft?Smartphones raus, Klassenarbeit

Aus Hamburg Philipp Brandstädter (Text) und Heinrich Holtgreve (Foto)

In einem tristen Flachbau am Hamburger Stadtrand beginnt die Zukunft pünktlich mit der Schulsirene. Der Unterricht hat begonnen, die 6b hat Mathe. „Herr Küüück, ich kann mich nicht einloggen!“, schreit ein Junge aus der hinteren Reihe, während Herr Küüück von zwei anderen Schülern in Beschlag genommen wird. Beide halten ihm ihre Telefone ins Gesicht. „Schauen Sie mal, ist das so richtig, Herr Küüück?“ „Herr Kü-hück! Wo soll ich da draufdrücken?“ Der digitale Unterricht, er hakt und ruckelt.

Mit einem Tablet in der Hand steht Dietmar Kück vor der Klasse. Die interaktive Tafel an der Wand zeigt auf 78 Zoll, was der Mathelehrer auf seinem Pad macht. Geometrie. Winkel bestimmen, mit einem Programm, das auch auf den Pads und Smartphones der Schüler läuft.

Die Schüler sollen spitze, rechte, stumpfe und gestreckte Winkel aufs Display wischen. Manche folgen dem digitalen Finger ihres Lehrers auf dem Board, andere schauen auf ihre Geräte. Die meisten sind eifrig bei der Sache, nur die vier Mädchen vorne rechts stecken die Köpfe zusammen und kichern. Unwahrscheinlich, dass Mathe so witzig sein kann. Sie haben das Instagram-Profil eines Mitschülers entdeckt. Unter der Schulbank Zettel schreiben, das war gestern.

Dass die Schüler der Stadtteilschule Oldenfelde im Osten Hamburgs ihre Smart­phones und Tablets nicht in der Tasche verstecken müssen, verdanken sie ihrem Lehrer, Herrn Kück. Der 44-Jährige hat vor drei Jahren ein Pilotprojekt der Schulbehörde an seine Schule geholt.

Doch nicht alle Kollegen der Schule sehen die digitale Wende so optimistisch wie Herr Kück, nicht jeder duldet das Smart­phone auf dem Tisch. Zum Beispiel, weil auf dem eigenen Gerät auch WhatsApp, Instagram, Snapchat und Spiele installiert sind. Wer in Oldenfelde einen Schultag vom Schulgong bis zum Schulgong verbringt, trifft auf Lehrer, die das gute, alte Arbeitsblatt verteidigen und vor den Plänen von Kück warnen. Für ihn ist digitaler Unterricht die Zukunft. Für die anderen im besten Fall eine Spielerei, im schlimmsten Fall gefährlich.

Für das Pilotprojekt hat die Stadt Hamburg die Stadtteilschule Oldenfelde mit flächendeckendem WLAN versorgt. Auf dem Schulhof und in allen Klassenzimmern können die Lehrer und Schüler in einem abgesicherten Netzwerk ins Internet. Jeder hat einen personalisierten Zugang zu einer Lernplattform, die für den Unterricht in allen Fächern genutzt werden kann.

Die Plattform funktioniert einfach: Die Schüler loggen sich ein und können sehen, was in der nächsten Schulstunde geplant ist. Die Lehrer hinterlegen Arbeitsblätter, Videos und Audiodateien, auf die die Schüler zugreifen. So oft sie wollen, je nach Lerntempo. Außerdem lösen sie auf der Plattform Aufgaben: Lückentexte, Gleichungen, Multiple-Choice. Die Lehrer sehen, welche Schüler welche Aufgaben gelöst haben. Das Programm zeigt Stärken und Schwächen einzelner Schüler und der gesamten Klasse und soll Überraschungen in der Klassenarbeit vermeiden.

„Bei so vielen Google-Treffern vergessen sie die Sachbücher in unserer Bibliothek“

Tanja Becker, Lehrerin für Bio und Deutsch, Verteidigerin des Analogen

Damit sich die Klasse nicht in einen Informatikraum mit verstaubten Röhrenbildschirmen quetschen muss, läuft die Lernplattform auf allen Geräten. Vier Buchstaben sollen den digitalen Unterricht für die Schüler leicht und für die Schule kostengünstig machen: BYOD steht für „bring your own device“. Die meisten Schulen haben wenig Geld, Laptopklassen sind eher Vorzeigemodelle als Standard. Also bringen die Schüler ihre eigenen Smartphones, Tablets und Notebooks mit.

„Das Smartphone hat ohnehin jeder in der Hosentasche“, sagt Dietmar Kück und lässt den Blick über seine Schüler wandern. „Warum sollten wir das nicht nutzen?“ In seiner Klasse ist es etwas ruhiger geworden, die Schüler lösen Aufgaben auf der Lernplattform. Die Elektronik im Klassenraum macht den Eindruck, als konferiere hier eine IT-Firma in einem wichtigen Meeting. Die Tablets, das Board, der Access Point an der Decke. Wenn da nicht auch die bunten Mäppchen und Brotdosen auf den Tischen lägen, die Schultaschen und Turnbeutel.

Die Mädchen auf Instagram stören Kücks Unterricht nicht weiter. „Das gehört zum Lernprozess dazu“, wiegelt Kück später ab. „Die Schüler lernen, sich auf die Sache zu konzentrieren.“

Für die Hamburger Schulbehörde ist die Schule in Oldenfelde ein Vorzeigeprojekt, für das sie viel Geld investiert hat. Denn auch wenn die Schüler ihre eigenen Geräte mitbringen, ist die Digitalisierung für Schulen teuer – und für die Anbieter ein riesiger Markt.

Auf der Fachmesse didacta in Stuttgart zeigten Technologiefirmen im Februar, wie sie auf der Digitalisierungswelle Geld verdienen wollen: Smarte Klassenzimmer mit smarten Boards. Lerntablets auf den Tischen, Lernkameras an der Decke. Eine Lerncloud, die die Schule vernetzt. Virtual-Reality-Brillen für den Biounterricht.

DigitalPakt#D, mit Hashtag

Auch die Bildungsministerin hat sich auf der didacta begeistern lassen. Johanna Wanka will den „Sprung nach vorn“, von der Kita bis zur Uni. „Um die Chancen des digitalen Wandels zu nutzen, brauchen wir die richtige Infrastruktur“, so Wanka. Es muss ein großer Sprung werden: Studien zeigen, dass Digitales im deutschen Bildungssystem im internationalen Vergleich nicht angekommen ist. Die Medienkompetenz von Schülern und die Ausstattung der Schulen liegen im hinteren Mittelfeld, weit entfernt von Ländern wie Australien, Kanada und den Niederlanden.

„Erst hat man die digitalen Medien verteufelt, jetzt werden sie gehypt“

Meike Lassen, Kollegin

5 Milliarden Euro hat Wanka deshalb für digitale Bildung versprochen. Bis zum Jahr 2021 soll die Ausstattung der über 40.000 Schulen im ganzen Land verbessert werden. Breitbandanbindung, WLAN-Spots, PC-Pools, interaktive Tafeln, Software. Im Gegenzug sollen sich die Länder verpflichten, ihre Lehrkräfte fortzubilden und Me­dien­kompetenz in die Lehrpläne aufzunehmen. Das Programm trägt den Titel „DigitalPakt#D“, mit Hashtag.

Der Stadtstaat Hamburg hat den Vorteil, dass vor jeder Schultür ein Glasfaserkabel für schnellen Internetzugang liegt, anders als in ländlichen Gebieten. Trotzdem sind die Unterschiede zwischen den Schulen groß. Die Stadtteilschule Oldenfelde wird noch lange ein Leuchtturmprojekt bleiben. Aber auch hier sind die Gemäuer marode, die Klassenzimmer nüchtern. Die sanitären Anlagen müssten erneuert werden, Tafeln und Overheadprojektoren wurden erst nach und nach durch Boards und Bea­mer ersetzt.

Dietmar Kück hatte viele Kämpfe auszutragen, bis er das Pilotprojekt gewann. Am benachbarten Gymnasium habe man vermeiden wollen, dass dieses Internet von der Stadtteilschule zu ihnen schwappe. Es gab Flugblätter von besorgten Eltern, die befürchteten, ihre Kinder würden an der Schule vom WLAN verstrahlt. Und auch Kücks Kollegen teilen seine Begeisterung nicht uneingeschränkt.

Die Schüler seiner sechsten Klasse gehören nicht zu den Kritikern. Nikhil Sharma, ein 11-jähriger, blasser Junge mit Brille, sitzt vor seinem Lehrer und wischt sich durch sein Fotoalbum. Herr Kück hatte der Klasse die Hausaufgabe gegeben, verschiedene Winkelarten im Alltag zu fotografieren. „Den rechten Winkel gibt’s überall“, sagt Nikhil. Fenster und Türen, Tischplatten und Zimmerwände. Irgendwie seien die alle immer rechtwinklig. „Andere Winkel zu finden war schwieriger.“ Er und seine Mitschüler haben Fotos von Bordsteinkanten, Dächern und Verkehrsschildern gemacht.

Nikhil stellt sein Trinkpäckchen an den Rand des Tischs, schiebt die Ärmel seines Sweatshirts hoch und lädt seine Fotos auf die Plattform. „Das WLAN ist ein bisschen lahm“, sagt der Junge und fegt beiläufig ein paar WhatsApp-Nachrichten von seinem Pad. „Da achte ich im Unterricht gar nicht drauf.“

Zu Hause chatte er viel, erzählt Nikhil, lese Filmbesprechungen auf bild.de und versuche, selbst gedrehte Videos zu schneiden. Er spielt einen Clip vor, auf dem grelle Schriftzüge an einem Sportwagen vorbeirotieren. Nur mal so als Beispiel, meint er, und zupft an seiner goldenen Halskette. Seine Eltern würden nicht verstehen, was er an seinem Tablet mache. In einem gibt er ihnen aber recht: „Manchmal übertreibe ich es ein bisschen mit der Zeit vor dem Pad.“

Ständig am Smartphone, ständig online. So könnte das künftig nicht nur zu Hause, sondern auch im Unterricht sein. Müssen Schüler den Umgang mit digitalen Medien lernen? Oder sollte man sie vor den Geräten in der Schule schützen?

„Wenn ich nur abfotografiere, versinkt das irgendwo. Das schaue ich nie wieder an“

Samire Fetahaj, 11. Klasse

„Wir müssen uns mit der Realität auseinandersetzen“, sagt Kück, als er am Türrahmen des Klassenzimmers gelehnt seine Schüler beobachtet. Damit sei die Schule spät dran. „Die Geräte bereiten Freude, sie rufen Reaktionen hervor. Warum sollten wir sie aus dem Unterricht verbannen?“ Gegenargumente nimmt Kück mit einem geübten Nicken entgegen, bevor er sie entkräftet. Als Leiter des Projekts hat er es vor Behörden, Kollegen und Eltern verteidigt, sich mit Gegnern gestritten, auf Vorträgen, bei Einzelgesprächen, etliche Male.

Große Pause.

An den Tischtennisplatten vorbei strömen die Schüler der Stadtteilschule in alle Richtungen. Auf ihr Telefon starren die wenigsten. Hier und dort steht ein schweigendes Grüppchen aus der Oberstufe, mit ihren Smartphones in den Händen. Ein paar Lehrer tun es ihnen gleich. Ansonsten sieht das Leben auf dem Schulhof aus wie vor zwanzig Jahren. Vielleicht verlieren die Geräte ihren Reiz, wenn sie sich in Unterrichtsgegenstände verwandeln.

Herr Kück verbringt die Pause im Lehrerzimmer. Geduldig wartet er, bis der Kaffee aus einer sehr analogen Kaffeemaschine in Becher läuft. In den Fächern über ihm stapeln sich Unterrichtsmaterial und Behördenpapiere, weiter hinten stehen alte Röhrenbildschirme. Um 2014, erinnert er sich, kam der Hype nach Oldenfelde. Plötzlich musste jedes Kind ein Smartphone haben. Zuerst wurden sie als Störfaktoren aus dem Unterricht verbannt. Dann durften Schüler sie im Matheunterricht nutzen, wenn sie ihren Taschenrechner vergessen hatten. Dann, um kurz eine Jahreszahl zu googeln, die dem Lehrer entfallen war. Die Geräte schlichen sich ein.

„Heute begreifen wir sie als Werkzeuge im Unterricht“, sagt Kück. „Mal nutzen wir das Smartphone und in der nächsten Stunde wieder Stift und Geodreieck.“ Natürlich sollten Schüler weiterhin lernen, wie man Kreise mit einem Zirkel zeichnet, sagt Kück. Doch man könne nicht davon ausgehen, dass wir in Zukunft noch immer auf Papier schrieben.

Nicht alle Lehrer sind von der Medienkompetenz ihrer Schüler so überzeugt. In einem anderen Klassenraum, nicht weit von Kücks digitaler Revolution entfernt, verteidigt Tanja Becker die klassischen Lehrmethoden.

„Die Flut an Informationen und unzuverlässigen Quellen überfordert die meisten“, sagt Becker, die schon ein paar Jahre mehr Erfahrung im Schuldienst hat, und schiebt sich die kantige Brille auf die Nase zurück. Sie hat nur ein paar Minuten, sagt sie in einem Besprechungsraum, nebenan hält sie gleich Unterricht. „Bei so vielen Google-Treffern vergessen sie die Sachbücher in unserer Bibliothek.“ Auf die Lernplattform verzichtet die Lehrerin für Biologie und Deutsch in der Regel, die Smartphones bleiben in der Tasche. Die Schüler würden nicht sinnvoll damit arbeiten. „Zu Hause werden die Geräte ja auch nicht benutzt, um Kindern etwas beizubringen, sondern um sie ruhigzustellen.“

Auf ihren Smartphones würden Schüler die Inhalte lediglich überfliegen. Ein mit Textmarker beackertes Arbeitsblatt präge das Leseverständnis besser. „Wir müssen uns fragen, mit welchen Fähigkeiten die Jugendlichen die Schule verlassen“, sagt Becker und zählt zügig auf: „Logisch denken, Inhalte erfassen und begreifen, Texte linear schrei­ben.“ Und der Umgang mit digitalen Medien? Das auch, sagt Becker. Allerdings fehle ihr dazu häufig die Zeit.

„Are you ready?“ Wohl eher nicht

Drei Jungen aus Beckers Klasse stürmen durch die Tür, sie haben sich in der Raumnummer vertan. Becker macht sich Sorgen um die leistungsschwachen Schüler, sagt sie. Wer nicht mitkomme, würde den Unterricht auf dem Handy verdaddeln. Die Geräte seien deshalb eher hinderlich. Weil die Technik hake. Weil Schüler sich vom Unterricht abmeldeten, um auf dem Flur zu telefonieren. „Oder weil beim Schummeln in der Klausur plötzlich Siris Stimme durch den Raum scheppert.“

Um Lehrer wie Becker für die digitale Wende des Unterrichts zu begeistern, hat die Hamburger Schulbehörde eine Lehrertagung organisiert. Funktionsjacken an der Garderobe, der Filterkaffee mit Kondensmilch läuft in die Tassen. Der Werbeclip einer Computerfirma schwärmt zur Einstimmung vom Klassenraum der Zukunft, zeigt begeisterte Schüler, die Diagramme und Gleichungen auf Tischplatten, auf Brillengläser oder in die Luft malen, und fragt zum Schluss: „Are you ready?“ Einige Zuschauer schauen sich fragend an. Wohl eher nicht.

Lehrer, die Videos schneiden

Ein Redner räumt ein, dass digitale Medien kein blinkender Selbstzweck sein sollten. Aber veraltete Schulbücher und Schwarzweißkopien rückten den Unterricht weit weg. Viele Lehrer interessieren sich dann auch für einen Workshop über Erklärvideos im Unterricht. „Jugendliche youtuben, statt zu googeln“, sagt der Dozent. Anhand von Tutorials lernten sie, wie das perfekte Make-up aussehe oder wie man den Akku eines Smartphones tausche. Genau so könnte man auch den Lehrplan durch Kurzfilme ins Netz auslagern.

Der Dozent verspricht Zeitgewinn, wenn man den Schülern schon vor dem Unterricht erste Grundlagen erkläre. Denn der Lehrer im Video bleibe geduldig, mache auf Wunsch Pause und erkläre von vorn. Der Dozent spielt einen Beispielfilm ab: Im Hintergrund eine Bücherwand, davor zwei hippe Physiklehrer. Sie erklären das Skalarprodukt. Ein Schnitt auf Karopapier mit Gleichungen, aus dem Off Gute-Laune-Musik.

So ein paar Minuten zu schneiden sei einfach, sagt der Dozent, koste aber ein paar Stunden Zeit. Die Gesichter in den Sitzreihen lassen erahnen, dass kaum ein Lehrer Erfahrung mit Videoschnitt hat, geschweige denn so viel Zeit für die Unterrichtsvorbereitung. Im Hörsaal werden stoisch Notizen angefertigt. Teils in Büchlein, teils auf Tablets.

Taschenrechner „Das Smartphone hat ohnehin jeder in der Hosentasche. Warum sollten wir das nicht nutzen?“Dietmar Kück, Lehrer für Mathe, Werber für Digitales

Auf einem anderen Podium spricht auch Dietmar Kück aus Oldenfelde, kurz und knackig stellt er sein Projekt vor. Er spricht von Entwicklungen, Erkenntnissen und Möglichkeiten und klickt sich dabei zügig durch die Folien seiner Powerpointpräsentation. In Kücks idealem Unterricht wird der Lehrer zum Lernbegleiter, während sich die Schüler auf der Plattform Wissen aneignen. Eigenständig, fächerübergreifend. Dabei könnten sich alle Hamburger Lehrer untereinander austauschen, weil sie online ein virtuelles Lehrerzimmer teilten.

Kück spricht souverän und tritt mit aller Selbstverständlichkeit auf. Die Daten im Schulnetzwerk: sicher. Die Lernplattform: gut angenommen. Die Schüler: top motiviert. Der Lernerfolg: signifikant, unmittelbar nach der Pilotstudie aber leider nicht messbar. Probleme sieht Kück nur in Details: Schön wäre es, wenn die Technik flüssiger liefe. Cybermobbing habe es auch in Oldenfelde schon gegeben, das Problem hätten jedoch auch analoge Klassen. Hier und da also kleine Hürden, resümiert Kück, ein vergessenes Passwort, ein leerer Akku. Eigentlich nicht der Rede wert.

Die Schule und das Netz

Die Regeln: Laut einer Befragung des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest unter Schülern verfügen 41 Prozent aller deutschen Schulen über WLAN. Oft ist das Netz für Schüler jedoch nur eingeschränkt zugänglich. 29 Prozent der Schüler gaben an, das WLAN gar nicht mit ihren Handys benutzen zu dürfen. 5 Prozent dürfen nur in großen Pausen mit dem Handy über das WLAN surfen. Die übrigen 7 Prozent der Schüler dürfen das Schulnetz mit ihrem Handy allein für Unterrichtszwecke verwenden, etwa um Recherchen durchzuführen.

Die Realität:Tatsächlich nutzen Schüler das Handy im Klassenraum auch für andere Zwecke. Laut einer Studie des Digitalverbands Bitkom hören die meisten Schüler über ihr Handy in der Schule Musik und chatten mit Mitschülern. Mehr als ein Drittel der Schüler schaut in der Schule Videos auf dem Handy und nutzt soziale Netzwerke. Jeder Zehnte nutzt sein Handy, um bei Klassenarbeiten zu schummeln.

Trotzdem will sich nicht jeder von seiner Euphorie anstecken lassen. Meike Lassen hat sich Kücks Kurzvortrag nicht angehört. Seine Kollegin aus Oldenfelde ist skeptisch, obwohl sie nicht zu den älteren Kollegen gehört. Erst habe man die digitalen Medien verteufelt, jetzt würden sie gehypt, sagt sie in der Warteschlange vor dem Buffet. „Erst haben sich die Lehrer quergestellt, weil sie sich nicht auskannten. Inzwischen sehnen sich auch die älteren Schüler nach ­einem guten, alten Arbeitsblatt.“

Für manche Stunden ließen sich die Medien gut nutzen, sagt Lassen. Die spielerischen Vokabel-Apps würden die Schüler motivieren, ein paar Verlinkungen zu Filmbeiträgen auch. „Aber oft nutzt man die Möglichkeiten nur, um die Schüler zu bespaßen, statt ihnen etwas beizubringen.“ Am Mittagstisch schalten sich immer mehr Kollegen ein. Sie erzählen von Kollegen, die nur noch mit digitalen Medien arbeiten wollen. Und nennen Gründe, warum man sich den digitalen Stress nicht machen und beim alten Repertoire bleiben sollte. Die Dozenten der Tagungen setzen sich dazu und versuchen zu überzeugen: Es lohne sich, die eigene Komfortzone zu verlassen.

DigitalPakt#D

Was ist das? Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) hat im Herbst 2016 angekündigt, 5 Milliarden Euro in die digitale Infrastruktur der 40.000 deutschen Schulen zu investieren. 2018 soll das erste Geld fließen.

Technik oder Toiletten? Hamburgs Schulsenator Ties Rabe, SPD, will zusätzlich Geld für die Sanierung der maroden Schulgebäude. Zudem fürchten die Länder, dass für sie aus dem Digitalpakt hohe Folgekosten entstehen. So müssten Lehrer geschult und die Technik müsste in einigen Jahren erneuert werden.

Andere Länder, andere Strippen: In Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein finden nur zwei von fünf Lehrern, dass der Internetzugang an ihrer Schule schnell und stabil genug ist. In der Spitzengruppe Bremen, Hamburg, Hessen und Rheinland-Pfalz sind es vier von fünf.

Die Debatte setzt sich vor allem aus Sätzen zusammen, die mit „Nein, sondern“ und „Doch“ beginnen. Geführt von Leuten, die es gewohnt sind, sich bei Widerworten zügig zu behaupten. Zurück bleibt das Gefühl, dass digitale Medien nur etwas für jene Lehrer sind, die bereit sind, ihre Methoden zu hinterfragen. Und ein Konferenztisch mit schmutzigem Geschirr und Kuchenkrümeln.

Zurück in Oldenfelde: In einem kahlen Raum im ersten Stock bereitet sich die Elfte auf eine Spanischklausur vor. Papier liegt bei den wenigsten Schülern auf dem Tisch, alle haben ihr Smart­phone in der Hand. Die Lehrerin schreibt reflexive Verben ans Board. Yo me lavo, tú te lavas, usted se lava, und einige Schüler müssen sich ein paar Schritte nähern, weil sich die Tafel von den hinteren Plätzen so schlecht abfotografieren lässt.

Samire Fetahaj schreibt die Verben lieber ins Heft. „Wenn ich das nur abfotografiere, versinkt das irgendwo zwischen allen Fotos. Das schaue ich mir nie wieder an“, sagt die 17-Jährige. Was sie sich wirklich merken wolle, müsse sie mit einem Stift notieren. Trotzdem sei das Smartphone im Unterricht praktisch. „Manche Schulbücher muss ich nicht mehr mitschleppen, weil ich sie als App habe“, sagt sie und poliert ihr Display an der Jeans. Wenn sie mal nicht da sei, lasse sie sich das Unterrichtsmaterial in der WhatsApp-Gruppe schicken. Sehr viel weiter komme man mit den digitalen Medien aber nicht. „Wikipedia dürfen wir nicht als Quelle verwenden, Google Translate übersetzt totalen Müll – und die Prüfungen musst du am Ende ja doch auf Papier und offline schreiben.“

Samires Banknachbarin checkt per Handykamera ihr Make-up, in der Fensterreihe snappen zwei Mitschüler Grimassen. Ob in der sechsten oder in der elften Klasse: Man sieht, welche Schüler mit ihren Smartphones daddeln und wer arbeitet.

Zum Ende der Stunde starten die Elftklässler ihr Vokabel-Quiz. Das hat schon Tradition. Die Schüler können auf ihren Smartphones für korrekte Antworten Punkte sammeln, das interaktive Board zeigt einen Highscore mit den Bestplatzierten an. Nikita führt die meisten Runden vor Celine und Justus. „Verdammt, ich hab mich verdrückt!“ An der Tafel fällt Nikitas Name auf Position drei. Die Mitschüler johlen.

Schulschluss. Die Klingel klingelt klassisch analog, Samire und ihre Mitschüler packen ihre Sachen. Mehrere hundert Telefone verlassen gleichzeitig das Netzwerk der Schule und machen sich auf den Heimweg.

Fast alle Schüler haben seit der Grundschule ein Handy. Früher diente es als Notfalltelefon dem Ruhepuls der Eltern, heute ist es vor allem Kommunika­tionsmittel. Auch in der Schule, natürlich. Neuigkeiten, Katzenbilder, Gerüchte, Fake News – alles landet in den Gruppenchats der Klasse. Sich sicher im Netz bewegen zu können wird damit so wichtig wie lesen und schreiben. Für die Schulen bedeutet das: mehr Bildungsauftrag im Lehrplan. Are you ready?

„Keiner kann genau sagen, was durch die Digitalisierung auf uns zukommt“, sagt Kück noch, bevor er seinen Klassenraum abschließt. Kein Trend, kein Zug, auf den man aufspringen könne oder auch nicht. Eher etwas, das Kück gern mit der Erfindung des Buchdrucks vergleicht. „Es geht darum, Schule neu zu gestalten. Meine Schüler tun das eben jetzt schon.“

Philipp Brandstädter, 33, hat während seiner Deutschklausuren hilfreiche SMS von Mutti bekommen.

Heinrich Holtgreve, 30, fotografiert gerne das Internet.

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