Wirtschaftsweiser Peter Bofinger: "Die Diskussion ist total neurotisch"
Peter Bofinger findet, dass die Bundesregierung zu eindimensional am Ziel des Schuldenabbaus festhält. Er fordert, die öffentliche Verschuldung überschaubar halten und Zukunftsaufgaben wie Bildung sichern.
taz: Herr Bofinger, Sie sind Wirtschaftsweiser. Sagen Sie: Geht es uns wirtschaftlich zurzeit gut, mittel oder schlecht?
Peter Bofinger: Es geht den Deutschen sicher insgesamt besser als noch vor ein paar Jahren. Sehr viele Menschen haben wieder Arbeit. Das ist gut, aber es müsste sich auch in realen Einkommenszuwächsen für die breite Masse niederschlagen. Der private Verbrauch liegt heute nur knapp zwei Prozent höher als im Jahr 2000. Stellen Sie sich das mal vor: In den letzten acht Jahren sind die effektiv gezahlten Löhne real um rund 5 Prozent gesunken.
Peter Bofinger (53) Professor am Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Geld und Wirtschaftsbeziehungen an der Uni Würzburg, ist seit 2004 auf Empfehlung der Gewerkschaften Mitglied des Sachverständigenrates der Bundesregierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ("Die fünf Wirtschaftsweisen"). Bofinger ist Vertreter einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik.
Aber die Exporte sind um 70 Prozent gestiegen, Deutschland ist international konkurrenzfähig. Ist das ein Erfolg, den man der Agenda 2010 von Exkanzler Schröder zuschreiben kann?
Nein, was hat die Agenda 2010 mit der Leistungsfähigkeit unserer Industrie zu tun?
Wer Hartz IV einführt und das Niveau der sozialen Sicherung senkt, sorgt dafür, dass die Löhne unter Druck geraten.
Dieser Effekt mag eine Rolle spielen. Die allgemeine Atmosphäre, zu der die Agenda 2010 beigetragen hat, führte dazu, dass die Einkommen der Beschäftigten stagnierten. Diese extreme Lohnzurückhaltung ist nicht gut. Sie macht unsere Wirtschaft abhängig vom Export.
Werden die Früchte des Aufschwungs in Deutschland gerecht verteilt?
Eindeutig nein.
Was sollte die Bundesregierung tun, um das zu ändern - Steuern senken, wie es die CSU und Teile der Union verlangen?
Das ist die falsche Rollenverteilung. Die Kaufkraft zu steigern, ist vornehmlich eine Aufgabe der Unternehmen. Die Bundesregierung müsste die Firmen auffordern: "Zahlt einfach mal ordentliche Löhne!"
Da lachen die Vorstände doch. Was soll dieser Appell nützen?
Er würde die politische Stimmung verschieben. Mittelfristig hat so eine Ansage in jedem Fall eine Wirkung.
Warum soll die Regierung auf die Firmen warten, wenn sie auch selbst etwas tun und die Steuerlast reduzieren kann?
Die ganze finanzpolitische Debatte ist schrecklich eindimensional. Eigentlich müssten wir drei Ziele in Einklang bringen: Erstens darf die Abgabenbelastung für die Bevölkerung nicht zu hoch sein, zweitens sollte die öffentliche Verschuldung überschaubar bleiben und drittens müssten wir auch unsere Zukunftsaufgaben anpacken.
Wo würden Sie investieren, wenn Sie in der Regierung säßen?
Die Autobahnen sind in einem erbärmlichen Zustand, vielerorts ist das Schienennetz verrottet. Kein Wunder, seit Jahren geben wir viel zu wenig Geld für die öffentliche Infrastruktur aus. Das gilt auch für den Bildungsbereich. Die entscheidende Frage, die man den Bürgern stellen muss, ist doch: Wollt Ihr 30 Euro mehr im Monat auf dem Konto oder wollt ihr weniger Staus auf der Autobahn und gute Kindergärten, Schulen und Universitäten?
Klingt ein bisschen akademisch. Ist es realistisch, die drei Ziele gleichzeitig zu erreichen?
Nicht, wenn man, um die nächste Wahl zu gewinnen, den Leuten dauernd erzählt, sie würden vom Staat ausgebeutet. Was ich erschreckend finde: Wir haben 2007 und 2008 den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um 3,2 Punkte gesenkt. Das alleine ist eine Reduzierung um 25 Milliarden Euro, die Hälfte ging an die Unternehmen. Hinzu kommt die Reform der Unternehmensteuer mit einer weiteren Entlastung von 5 Milliarden. Und jetzt soll schon die nächste Runde der Steuersenkung anstehen, wo ist das Ende? Wenn der Staat aufhört zu existieren?
Mittelstand und Mittelschicht haben also keinen Anlass, sich zu beschweren?
Natürlich ist es ein Problem, dass man ab 4.300 Euro Monatseinkommen schon den höchsten Steuersatz bezahlt. Aber viel gravierender finde ich die Belastung der Leute, die ganz niedrige Löhne verdienen. Im Vergleich zu anderen OECD-Ländern zahlen die Beschäftigten in den unteren Lohngruppen bei uns besonders viel. Wenn man sich eine weitere Senkung der Steuern oder Sozialbeiträge leisten will, dann dort.
In Ihrem Dreiklang fehlt jetzt noch der Schuldenabbau. Was halten Sie vom Ziel der großen Koalition, den Bundeshaushalt bis 2011 auszugleichen und dann ohne neue Kredite auszukommen - ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür?
Da ist sie wieder, diese Eindimensionalität. Die Regierung hält sich krampfhaft an diesem Ziel fest. Sie könnte auch mal kreativ sein. Was spricht gegen ein geringes Defizit von einem Prozent des Bundeshaushaltes, wenn man die 23 Milliarden Euro, die damit zur Verfügung stünden, vernünftig investierte - in die Zukunft unserer Kinder, in die beste Bildung, die wir ihnen geben können?
Wir erleben einen Aufschwung, die nächste Krise kommt bestimmt. Wann, wenn nicht jetzt, soll man aufhören, Schulden zu machen?
In diese Richtung zu arbeiten, ist mittelfristig richtig. Aber nicht mit Scheuklappen.
Sie sind einer der wichtigsten Wirtschaftsberater der Bundesregierung. Empfehlen Sie Bundeskanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück, das Ziel "null neue Schulden 2011" aufzugeben?
Nein, so explizit tue ich das nicht. In rate ihnen aber, darüber nachzudenken, dass ihre Finanzpolitik drei Dimensionen haben sollte und nicht nur eine. Als Wissenschaftler bin ich allerdings auch in der glücklichen Lage, andere Positionen vertreten zu können als Politiker.
Worin besteht der Unterschied?
Jetzt ein Defizit zu verlangen, ist in der Öffentlichkeit kaum zu kommunizieren - auch wenn es eigentlich richtig wäre. Die Diskussion in Deutschland ist einfach total neurotisch.
Was würde passieren, wenn Finanzminister Steinbrück sagen würde, er gibt das Null-Schulden-Ziel für das Jahr 2011 auf?
Er würde von den Oswald Metzgers dieser Republik sofort zerlegt. "Schulden runter!" oder "Steuern runter!" können Sie in jeder Talkshow richtig rüberbringen. Alles andere ist zu kompliziert. Da ist die Grenze erreicht. Drei Dimensionen sind zu viel für Will, Plassberg und Illner.
Welche Aufgaben würden es lohnen, nach der Bundestagswahl 2009 abermals eine große Koalition zu bilden?
Da muss man erst einmal fragen: Was sind die Aufgaben, um die es geht? Wir brauchen den gesetzlichen Mindestlohn als allgemeinverbindliche Untergrenze. Ein Millionenheer von Vollzeitbeschäftigten, die von ihrem Einkommen nicht mehr leben können, ist für unsere Gesellschaft keine gute Lösung. Hier hat die große Koalition bisher versagt. Außerdem bedarf es einer Initiative im Bildungsbereich. Die wird aber nicht funktionieren ohne die zentrale Kompetenz der Bundesregierung. Das heißt: Wir müssten die Förderalismusreform rückgängig machen, mit der die Bildungspolitik in die Hände der Länder gelegt wurde.
Die SPD befürwortet den Mindestlohn, die Union lehnt ihn ab. Und die Förderalismusreform, die Sie kritisieren, haben die beiden Parteien gemeinsam beschlossen. Die von Ihnen als zentral beschriebenen Aufgaben kann die große Koalition also nicht lösen. Wozu braucht man sie dann noch?
Das ist eine gute Frage.
INTERVIEW: HANNES KOCH
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