Wirtschaftsförderung am Stadtrand: Jede Menge Platz in Marzahn
Während in anderen Bezirken der Raum für Gewerbetreibende eng und unbezahlbar wird, vermarktet Marzahn-Hellersdorf sein größtes Pfund: viel Freiraum.
Ende der 2000er Jahre müffelten hier noch die Reste eines stillgelegten Klärwerks vor sich hin, 60 Bauwerke mit Türmen und leeren Becken, in denen Marzahner Kids mit dem BMX-Rad cruisten. „Hätte man ein prima Endzeitdrama drehen können“, sagt Rüdiger. Es war die Hochzeit der deutschen Solarindustrie, die neuen Unternehmen schossen wie Pilze aus dem Boden und in Marzahn träumte man von einem Park voll innovativer Start-ups statt stinkender Ruinen. 2016 war alles abgebaut, weggesprengt, abtransportiert, eine Straße gebaut, waren Krötentunnel errichtet und seltene Arten umgesiedelt. 38 Millionen Euro hat das Herrichten des Geländes gekostet. Seitdem gibt es hier eine Menge Platz; nur die deutsche Solarindustrie gibt es nicht mehr.
„Zum Glück haben wir dem Projekt einen neutralen Namen gegeben“, sagt Rüdiger. Der Cleantech-Business-Park soll nun Unmengen Raum bieten für produzierendes, großflächiges Gewerbe mit nachhaltiger, sauberer Technologie. „Wo gibt es denn so etwas noch in Berlin?“, fragt Rüdiger, Es ist, angesichts der großen Verdrängungsprozesse, eine rhetorische Frage – und ein Alleinstellungsmerkmal für Marzahn.
Und der Cleantech-Business-Park, dessen Ära gerade erst beginnt – seit August produziert hier ein Schweizer Speichermedienhersteller und verkauft in die ganze Welt –, ist nur ein Teil der Geschichte. „Made in Marzahn“ könnte auch auf Brillengestellen, Präzisionsmessgeräten, Lasertechnik stehen. Zwischen Plattenbauten hat sich produzierendes Gewerbe der nächsten Generation angesiedelt. „Als wir angefangen haben zu werben, kamen plötzlich immer mehr Unternehmen“, erzählt Rüdiger. Fast 40 Firmen mit 2.500 Mitarbeitern haben sich hier in den letzten zehn Jahren auf den Freiflächen rund um den Cleantech-Business-Park angesiedelt.
Wie müsste das Gewerbemietrecht umgebaut werden, um soziale Projekte, Vereine, Cafés und kleines Gewerbe besser vor immer höheren Gewerbemieten zu schützen? Warum könnte das französische Gewerbemietrecht ein Vorbild sein? Diesen und anderen Fragen geht eine Podiumsdiskussion von Helle Panke e. V. und Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin am Dienstag, dem 15. Oktober, um 19 Uhr in der Kopenhagener Straße 9 nach. (taz)
Flache Hierarchien, alle sind per Du
Eine davon heißt Berlin.Industrial.Group, sie bündelt seit 2015 in Marzahn Start-ups mit innovativer Technologie auf einem zehn Hektar großen Campus. Ein weitläufiges Gelände mit pragmatischer Industriearchitektur, in deren Sichtachsen ein verlassener Plattenbau vor sich hin rottet. Ansonsten ist hier alles sehr modern und fresh: Transgendertoiletten, flache Hierarchien, alle sind per Du, Durchschnittsalter 35. Am Abend wird auf dem betriebseigenen Beachvolleyballfeld für den Marzahn-Hellersdorfer Eastside Cup trainiert, auch das eine Erfindung der bezirklichen Wirtschaftsförderung. In einen Strandkorb kann man sich zurückziehen, mit W-LAN versteht sich.
Innovative Lasertechniken, die hässliche Schweißnähte überflüssig machen, und Maschinen für 3-D-Druck, die mit einem Bruchteil des sonst üblichen Material- und Zeitaufwands auskommen, werden bei B.I.G. in Marzahn weiterentwickelt und vertrieben. Ein Verfahren zur lasergestützten Unkrautvernichtung ist gerade noch in der Testphase. Zehn Unternehmen beschäftigen rund 300 Mitarbeiter. Marzahn als Standort spiegle auch den Spirit des Unternehmens wider, heißt es auf der Website: „Authentisch und unverkrampft, zukunftsorientiert und dynamisch.“
„Hier ist noch viel Platz, um zu wachsen, das ist wichtig“, sagt Geschäftsführer Tom Lüders. B.I.G. konnte vor fünf Jahren das Gelände kaufen, inzwischen verpachtet der Bezirk nur noch. Dieser Tribut an die Platzknappheit innerhalb der Berliner Stadtgrenzen ist auch hier notwendig geworden.
Auf Messen von Amerika bis Asien macht die kleine Abteilung der bezirklichen Wirtschaftsförderung Werbung für den Standort Marzahn-Hellersdorf. „Mit gesundem Selbstbewusstsein“, wie CDU-Wirtschaftsstadträtin Nadja Zivkovic betont. Ihre Abteilung hat auch schon mal die Mitarbeiter nach Marzahn umziehender Unternehmen per Bus durch den Bezirk chauffiert. „Um Bedenken abzubauen“, sagt Zivkovic, die ansonsten nichts von den ewig gleichen Vorurteilen in Sachen Marzahn hören will. Die Imagekampagne „Made in Marzahn“, für die in Marzahn produzierte Produkte Modell standen, kommt aber wohl doch nicht von ungefähr. Dass hier Modernstes floriert, hat eben noch nicht jedeR BerlinerIn auf dem Zettel.
Madonna trägt Brillen aus Marzahn
Der Brillenhersteller IC Berlin ist eines der Unternehmen der „Made in Marzahn“-Kampagne, ansässig im Econopark. Ein Gewerbehof mit knapp 118.000 Quadratmeter Fläche, in einem Gebiet, in dem die Straßen wenig schmeichelhaft nach dem Chemiedreieck der DDR benannt wurden – Bitterfelder, Leunaer und Wolfener Straße.
Doch Straßennamen, Vorurteile gegen den vermeintlichen Plattenbaubezirk – all das sind Dinge, die offenbar nicht ins Gewicht fallen für einen Brillenhersteller, dessen Modelle von Brad Pitt, Madonna und thailändischen Instagram-Stars getragen werden. „Aus Mitte hierher nach Marzahn zu ziehen war die beste Entscheidung“, sagt Geschäftsführer Jörg Reinhold im Empfangsbereich seines Unternehmens.
Betonfußboden, Sitzgruppe, Kaffeebar, eine Schaukel am Stahlträger, die aktuellsten Brillenmodelle sind ausgestellt. Wer will, kann seine Brille direkt am Produktionsstandort kaufen statt bei ausgewählten Optikern in Premiumlagen. Zwei Etagen Platz haben sie hier, demnächst soll noch eine dritte dazukommen.
Von den schraubenlosen Brillen, mit denen das Label Ende der 90er Jahre berühmt wurde und deren erste zwei Exemplare in einer Wohnung in Mitte zusammengesetzt wurden, lagern hier 25.000 Stück, bereit für den Versand in alle Welt. 1.000 neue Brillen werden pro Tag mit viel Handarbeit produziert.
Umzug von Mitte nach Marzahn
Der vorherige Firmensitz lag unweit des Alexanderplatzes, zwischen Mitte und Prenzlauer Berg, in historischer Industriearchitektur, mit Dachterrasse. 2016 lief der letzte Mietvertrag aus, die Miete von damals 10 Euro pro Quadratmeter hätte sich mindestens verdoppelt, inzwischen wohl sogar verdreifacht. Ohnehin war der Platz zu knapp geworden.
Also machte man sich bei IC Berlin auf die Suche nach neuen Räumen. „Doch selbst wenn Geld keine Rolle spielt, ist es nahezu unmöglich, so große zusammenhängende Flächen zu finden“, sagt Reinhold. Zumindest in Innenstadtlage. Dass es dann Marzahn wurde, lag auch an der guten Akquise des Vermieters. Mit Büros und Gewerberäumen ab 2,50 Euro pro Quadratmeter wirbt der Econopark, Platz ist nach wie vor genug.
Dass der Umzug aus Mitte nach Marzahn nicht von allen MitarbeiterInnen goutiert wurde, muss aber auch Reinhold einräumen. „Wenn Sie an den Rand der Stadt ziehen, verliert immer irgendwer“, sagt der Geschäftsführer. Das Unternehmen zahlte sogar Unterstützung für einen Umzug in den Bezirk, davon hätten aber nur zwei Mitarbeiter Gebrauch gemacht. Zehn Angestellte hätten wegen zu langer Fahrtzeiten gekündigt. Manch einer ist aufs Auto umgestiegen, weil die Zuverlässigkeit der angrenzenden S-Bahn eine Katastrophe sei.
Und der Dönerladen um die Ecke mache zwar „einen ordentlichen Job“, aber ansonsten ist die Essenauswahl einfach nicht die gleiche wie im Umkreis des Alex. Deshalb wird nun zweimal die Woche selbst gekocht und bei schönem Wetter draußen unter den Apfelbäumen gegessen. Die Bewerbungen, die seit dem Umzug aus Mitte bei IC Brillen eingehen, hätten sich verändert, so Reinhold: weniger exzentrisch, dafür ernsthafter.
„Berlin“ ist das Aushängeschild
Wenn ausländische Geschäftspartner durch Plattenbau-Alleen zum Marzahner Firmensitz gefahren werden, gebe es jedenfalls keine Irritation. „Haben Sie schon mal asiatische Millionenstädte angeschaut?! Die sind ganz anderes gewohnt“, sagt Reinhold. „Ob wir in Mitte oder in Marzahn produzieren, ist außerhalb der Stadt scheißegal. ‚Berlin‘ ist das Aushängeschild.“
Nadja Zivkovic, die Wirtschaftsstadträtin, und Kathrin Rüdiger, die Leiterin der Marzahner Wirtschaftsförderung, dürften damit zufrieden sein. Im Wochentakt schütteln die beiden Frauen UnternehmerInnen die Hand, die aus ihrem Bezirk für die ganze Welt produzieren.
Der Bezirk selbst hat eigentlich nichts davon: Die Gewerbesteuer, die die neu angesiedelten Unternehmen zahlen, sackt das Land Berlin ein. „Uns geht es um die Arbeitsplätze“, sagt Zivkovic. Und ein Stück weit vielleicht auch ums Image.
Dieser Text ist Teil eines Schwerpunktes in der Print-Ausgabe der taz am wochenende vom 12./13. Oktober 2019.
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