: Wir werden leben. Ab morgen.
„Das Treffen der Ärzte“ von Astrid Litfaß wird in München uraufgeführt ■ Von Mirjam Schaub
Die taubengrauen Flusen des Teppichs verfangen sich in den Kreppsohlen der Besucher, die über die Bühne in die Zuschauerränge steigen. Bevor man das lästige Zeug loswerden kann, sagt eine tonlose Stimme aus dem Off: „Die Zeit, die Zeit. Das Überstehen von Augenblicken, aus denen Jahre werden. Ihr habt keine Wahl. Ihr müßt mir zuhören.“ Im Dunkeln erkennt man die Silhouette eines Mannes, der langsam in seiner Wohnzimmergarnitur versinkt. Seine Stimme gehört nicht mehr zu ihm, sie ist ihm so fremd wie das, was ihm widerfährt.
Im Theaterstück Das Treffen der Ärzte heißt der Mann Erich Koller. Seine Vorgeschichte könnte aus einer NS-Akte abgeschrieben sein. 1943 bis 1945 soll Koller neben Josef Mengele als NS-Arzt an der Rampe von Auschwitz gestanden haben. Er selektierte nicht kaltblütig, nicht leidenschaftlich, sondern mit Unmengen von Alkohol im Blut. Wahrscheinlich im Suff zeugte er eines Tages mit der jüdischen Häftlingsärztin Edith Horn (Heidy Forster) ein Kind. Die beiden überlebten. Nach dem Krieg sagt Edith Horn gegen Erich Koller aus. Der flieht wie Mengele nach Lateinamerika, kehrt nach Deutschland zurück und fristet fortan ein jämmerliches Dasein. Koller weiß, daß Horn mit ihrer Tochter zurückkehren wird, um ihn zu töten.
Am Rande des Flauschteppichs steht sie, die Edith Horn, inzwischen Humangenetikerin in Boston, und stellt erstmal die Koffer vor sich hin: „Kehren wir um, Clara, und lassen alles so, wie es ist.“ Die sagt gelassen: „Ich werde tun, was notwendig ist, damit du vergessen kannst. Wir werden leben. Wir werden dazugehören, zum richtigen Leben, morgen, Mutter. Ab morgen.“
In den Bannkreis aus Zaudern und Verheißung hat Astrid Litfaß ihre Figuren fest eingeschlossen, dezent und mitleidslos in zwei Minuten auf den Punkt gebracht. Es geht um die „Absolventen der besten mitteleuropäischen Universitäten“, Ärzte, die den Massenmord von Auschwitz auf ihrem Gewissen haben. Männer, die mit Brutschrank, Zentrifuge und Pipette nicht nur Plasmapräparate von eineiigen Zwillingen herstellten, sondern „rassisch minderwertige Menschen“ mit Typhus et al. infizierten, zu Tode spritzten und ihre Gehirne sezierten.
Dreißig Jahre später treffen sich die Ärzte bei Koller wieder — und hier setzt das Stück ein. Noch immer tragen sie die weißen, mintgrünen oder hellblauen Kittel, die alten, selbstmitleidigen Männer, die mit ihrer Nazi-Vergangenheit nicht leben und nicht sterben können. Da betritt Josef Mengele die Bildfläche, mit leichtem Schritt eilt er aus dem Zuschauerraum auf die Bühne. Dieser Mann ist ungebrochen; Horst Sachtleben spielt ihn geschmeidig, elegant. „Ich bin das Prinzip“, erklärt er. Das Prinzip des rückhaltlosen, der Forschung ergebenen Asketen, der seinen Rassenwahn für Naturgesetz hält. „Wir können erschaffen, und wir können vernichten. Wir sind Ihm gleich.“ Diese Sätze bleiben auf der Bühne unwidersprochen, sie sind Diktion. Zur Anschauung führt Mengele ein Menschenkind im Schlepptau, das Zigeunermädchen Estelle (Diana Greenwood) mit manipulierten, blauen Augen, das ihm — wie ein Automat — zu Gebote steht.
Was brutal, bestenfalls grotesk ist, wird auf der Bühne als Normalität ausgespielt. Das Ringen, das in knappen Sätzen stattfindet, ist ein Ringen zweier Menschen, die sich ebenbürtig sind. So ist es weder skandalös noch sonderlich verblüffend, daß der Nazi Mengele von Anfang an nicht die abgetakelten Ärzte, sondern die Jüdin Horn als Forscherin auf seine Seite ziehen will: „Es gibt nur zwei begabte Völker. Ihr und wir. Besser, es gibt nur eins.“ Stolz wirft Heidy Forster den Kopf zurück, versucht noch, dem Zigeunerkind eine menschliche Regung zu entlocken, um Mengele zu Fall zu bringen. Aber im Grunde ist auch sie nur eine gut funktionierende Humangenetikerin, die im Reagenzglas die Teilung meiotischer Eizellen gewissenhaft prüft; als Rachegöttin gänzlich ungeeignet. Das Scheitern ihrer Mission wird in dem Moment deutlich, als sie Mengele den Vorwand liefert, den inperfekten Automaten Estelle zu erschießen — nicht aus Empörung, sondern als Demonstration seiner Macht. Business as usual.
Zurück bleibt die Einsicht, daß die tödlichen, medizinischen Experimente der Nazis bloß die Vorstufe zur heutigen Humangenetik waren. Um das zu konstatieren, bedarf es nicht der Selbstgerechtigkeit des Josef Mengele, der Fortgang der Technik erübrigt alle Zweifel.
Das Treffen der Ärzte ist das dritte Theaterstück der 1944 geborenen Autorin Astrid Litfaß. Auf Anregung der Münchner Autorenwerkstatt, wo das Stück im Oktober 1991 großen Zuspruch erhielt, hat es der Regisseur Pierre Walter Politz im Theater im Marstall uraufgeführt.
Das Thema ist weder neu noch richtig brisant. Die meisten Zeitgenossen können sich sicherlich darauf verständigen, daß sie Barbarei unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit höchst bedenklich finden. Ihr geflissentliches Stirnrunzeln mit Hilfe eines durchdachten, aber dramatischen Stoffs glätten zu wollen, könnte leicht mißlingen. Astrid Litfaß schafft es allerdings ohne falsches Pathos, unprätentiös und feinfühlig, die manische Wissenschaftsehrfurcht eines Josef Mengele, die verschämte Speichelleckerei seiner Handlanger und das resignative Einverständnis einer jüdischen Humangenetikerin auf die Bühne zu bringen. Die Regie von Politz stellt die schlichte Sprache in den Vordergrund, unterstreicht die Handlung nur exemplarisch. Der Arzt Koller, der mit Gummihandschuhen die Dornen an den Rosen entfernt, die dahingestreckte Estelle, die wie gekreuzigt daliegt oder die Ärztin Horn, der Mengele den Arm herumdrehen darf — das ist plakativ genug und schon haarscharf an der Grenze dessen, was das Stück vertragen kann.
Astrid Litfaß gelingt, was sie sich vorgenommen hat. Nicht mehr, nicht weniger. Die ZuschauerInnen gehen in den Regen hinaus und treten so, Schritt für Schritt, die taubenblauen Flusen an ihren Kreppsohlen los.
Astrid Litfaß: Das Treffen der Ärzte. Regie: Pierre Walter Politz, Kostüme: Birgitta Lohrer. Mit Heidy Forster, Horst Sachtleben, Diana Greenwood, Katja Amberger, Wolfgang Reinbacher, Volker Spahr und Michael Vogtmann. Nächste Aufführungen: 25. und 29.März im Theater im Marstall, München.
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