„Wir sollen uns nicht wundern, dass sie kommen“

EINSATZ Am Samstag organisiert Pfarrer Peter Kranz wieder eine Lichterkette – diesmal unter dem Motto „Flüchtlinge willkommen – Fluchtursachen überwinden“. Es sei an der Zeit, ein Zeichen zu setzen, sagt Kranz, die Zustimmung zu den Flüchtlingen nehme ab

Sanfter Protest: BerlinerInnen bilden im Juni 2009 eine Lichterkette anlässlich der Unruhen im Iran Foto: Santiago Engelhardt

von Susanne Memarnia

taz: Herr Kranz, Lichterketten als politische Ausdrucksform gibt es bei uns seit dem „Aufstand der Anständigen“ im Oktober 2000 gegen Antisemitismus. Warum wollen Sie jetzt Lichter anzünden?

Peter Kranz:Ich habe ja schon zweimal Lichterketten organisiert: An der ersten, 2003, kurz vor dem Einmarsch in den Irak, haben 110.000 Leute teilgenommen. 2005, 60 Jahre nach Kriegsende, gab es bundesweit, aber besonders rund um Berlin, viele rassistische Vorkommnisse. Damals stand unsere Lichterkette unter dem Motto „Nie wieder Krieg, nie wieder Rassismus, nie wieder Ausländerfeindlichkeit“, 25.000 Menschen nahmen teil. Und Anfang der 90er, da war ich noch Pfarrer in Spandau, habe ich ebenfalls eine Menschenkette organisiert, weil es auch da wieder viele rassistische Übergriffe gab.

Gerade gibt es eine große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung, aber gleichzeitig jeden Tag einen Anschlag auf ein Flüchtlingsheim. Sehen Sie jetzt wieder solche Zeiten kommen?

Das ist nicht der Grund für die Lichterkette, obwohl die Anschläge natürlich furchtbar sind. Der Grund ist vielmehr: Es bröckelt bei der Zustimmung zu den Flüchtlingen in der Mehrheitsgesellschaft, in den großen Parteien, CDU und SPD. Da ist es genau die richtige Zeit, dass wir ein Zeichen setzen, dass Flüchtlinge hier willkommen sind. Und dass wir darauf Wert legen, darüber nachzudenken, wo die Fluchtursachen liegen. Die überwindet man nicht, indem man Zäune bauen will, wie jetzt in Bayern oder Ungarn. Man bekämpft sie auch nicht, indem man mit Frontex-Kriegsschiffen im Mittelmeer auftaucht. Wir haben die Fluchtursachen selbst verursacht.

Sie meinen, wir sind schuld, dass die hier sind?

Unter anderem, ja. Etwa die EU-Außenhandelspolitik fördert den weltweiten Verkauf von überschüssigen Lebensmitteln, auch in der Dritten Welt. Das führt dazu, dass Bauern arbeitslos werden, weil sie den Milch- oder Hühnchenpreis der EU nicht unterbieten können, und sich dann – wie in Nigeria – Boko Haram anschließen oder auf die Flucht machen. Vom Klimawandel will ich gar nicht reden, den wir auch verursacht haben. Auch unser Waffenhandel ist natürlich ein Grund.

Also weil wir schuld sind am Elend in der Welt, müssen wir jetzt alle Flüchtlinge aufnehmen?

Ach, „schuld“ ist ein blödes Wort. Wir sollen uns aber nicht wundern, dass sie kommen. Ich wundere mich, dass sie erst jetzt kommen. Afghanistan – failed state. Irak – failed state. Syrien, Somalia, Libyen – alles failed states. Wir müssen in Frieden und Entwicklung investieren – aber so, dass die Länder auch eine Chance haben, sich zu entwickeln. Nicht so, wie bei den bisherigen Handelsabkommen, wo die kleinen, schwachen Staaten die Opfer sind. Wir müssen faire Abkommen machen.

Aber solche Fluchtursachen zu bekämpfen ist eine langfristige Sache. Kurzfristig haben viele Leute hier jetzt Angst, dass wir es nicht schaffen, die vielen Menschen aufzunehmen.

Peter Kranz

69, war früher Pfarrer in der Spandauer Neustadt. Heute ist er geschäftsführender Vorstand des Ökumenischen Zentrum für Umwelt-, Friedens- und Eine-Welt-Arbeit in Charlottenburg.

Ach, es wird viel Unsinn geredet – als ob alle Welt nach Deutschland kommen möchten. „Wir können nicht alle Flüchtlinge aufnehmen“, heißt es immer. Wenn man sieht, was Libanon aufnimmt und was wir, dann wundert man sich. Es kommen nicht alle, das wissen wir doch. Es kommen einige, und dass sie verteilt werden in Europa, muss geregelt werden. Aber wir können Asylsuchende nicht außen vor lassen. Das ist ein Grundrecht – das müssten sie schon ändern, aber da mache ich nicht mit! Und die Mehrheitsgesellschaft wird da auch nicht mitmachen! Also: Die, die kommen, schaffen wir schon, zu versorgen. Leider denken nicht alle so: Hier in unserem Ökumenischen Zentrum haben wir rechtsradikale Nachbarschaft, zweimal schon wurden die Türen von unserem Ökumenischen Zentrum hier in Charlottenburg kaputtgemacht.

Weil Sie sich für Flüchtlinge engagieren?

Und gegen Rechtsradikale. Ich kriege auch Anrufe, wo jemand „Arschloch“ ins Telefon ruft und wieder auflegt. Das gab es öfter in den letzten Tagen.

Wegen der Lichterkette?

Ja, warum sonst, ich stehe ja mit Namen auf den Plakaten. Das ist nicht weiter schlimm, das ist nicht die Mehrheitsgesellschaft, sondern das sind kleine Gruppen, die ihr Unwesen treiben. Damit muss man leben.

Sie haben viele Freiwillige im Zentrum, die sich für Flüchtlinge engagieren. Haben Sie Befürchtungen, dass das bald nachlassen könnte?

Also, bei unseren Lehrkräften, die hier Deutschunterricht für Flüchtlinge geben, glaube ich das nicht. Ich hatte Ende vorigen Jahres in einer Lehrerzeitschrift aufgerufen, sich zu melden, da haben sich 24 pensionierte Lehrer gemeldet. Sie haben pädagogische Konzepte entwickelt, mittlerweile haben wir 40 Lehrkräfte, die unterrichten. Wir mussten unser Angebot sogar ausweiten auf den Nachmittag und in andere Räume – wir unterrichten jetzt auch in einer Schule und in den Parteibüros der Grünen und Linken im Kiez. Es melden sich jede Woche zwei neue Lehrkräfte bei uns. Da kann man nicht sagen, dass das Engagement bröckelt.

Am Samstag, 17. Oktober, gibt es die „Berliner Lichterkette“ unter dem Motto: „Flüchtlinge willkommen – Fluchtursachen überwinden – Lichtzeichen setzen“.

Die vom Ökumenischen Zentrum Charlottenburg ins Leben gerufene Aktion wird von zahlreichen Organisationen unterstützt, darunter: Asyl in der Kirche, Jesuiten Flüchtlingsdienst, GEW Berlin, DGB Berlin-Brandenburg, SPD Berlin, CDU Berlin, Linke Berlin, Grüne Berlin, Piratenpartei Berlin, Grips-Theater, Attac Berlin, Naturfreunde Berlin, Willkommensbündnis für Flüchtlinge Steglitz-Zehlendorf

Es gibt 23 Treffpunkte, wo sich zwischen 19.30 Uhr und 19.45 Uhr „auf den südlichen Bürgersteigen“ versammelt werden soll. Jeder TeilnehmerIn sollte möglichst den seinem Wohnort nächstgelegenen Punkt anlaufen. Wo genau diese Orte sind, steht im Netz unter www. berliner-lichterkette.de

Um 20 Uhr wird die Lichterkette für 15 Minuten geschlossen. Bringt Lichter mit! (sum)

Sie sagen, was die Unterstützung aus der Bevölkerung angeht, ist das zu schaffen mit den Flüchtlingen?

Ich denke, ja. In jedem Bezirk gibt es freiwillige Initiativen wie „Moabit hilft“ oder „Flüchtlinge willkommen Zehlendorf-Steglitz“. Das ist toll, da bin ich stolz auf unser Land.

Wie viele Leute müssen kommen, um eine Lichterkette durch die Stadt zu ziehen?

30.000. Das geht dann von Spandau bis Kaulsdorf. Das Problem ist die Verteilung. Es gibt zwei große Gebiete, wo keine Menschen leben: der Tiergarten, da hatten wir schon 2005 Probleme, haben es aber mit etwas Abstand zwischen den Leuten geschafft. Und Charlottenburg-West, an der Heerstraße vor Spandau, das ist viel Gewerbe. Darum ist es wichtig, dass nicht jeder in die Innenstadt fährt, sondern zum für ihn nächstgelegenen der 23 Treffpunkte. Jeder Treffpunkt wird betreut, und die Koordinatoren schicken dann die Leute dorthin, wo die Lücken sind.