piwik no script img

Archiv-Artikel

Wir sitzen alle in der Plusfiliale

Von der Berliner Volksbühne an die Ruhr: Frank Castorf hat als neuer Leiter die Ruhrfestspiele Recklinghausen mit einem Stoff aus der Frühzeit des Kapitalismus eröffnet. Noch aber scheint die Sehnsucht der Künstler einseitig, in die Gemeinschaft der Opfer des Marktes aufgenommen zu werden

Castorf verhilft den weggeschnittenen Nebenfiguren wieder zu ihrem Recht und damit der Maßlosigkeit der Kunst

VON ALEXANDER HAAS

„Warum tanze ich? Warum spiele ich?“ Am Ende eines vierstündigen Castorf-Abends im Ruhrgebiet rücken die Schauspieler dem schon ermüdeten Publikum mit Fragen auf den Leib. „Warum inszeniere ich? Aus Liebe zu den Menschen?“ Ihre Antwort lautet in etwa: „Nein. Sondern weil ich meinen Gedanken ein Recht verschaffen will. Ihr seid dafür nur die Ohren und die Augen, die ich benötige.“ Für die Zuschauer ist das wie ein Schlag ins Gesicht. Frank Castorf hat die ersten Ruhrfestspiele unter eigener künstlerischer Leitung eröffnet, und wer etwas Arbeitnehmer- und Arbeitslosenfreundliches in alter Ruhrfest-Tradition wie „Kohle für Kunst – Kunst für Kohle“ erhofft hatte, der hatte sich geschnitten. Nach den Anfängen des Festivals aus dem Geist jenes solidarischen Tauschhandels und zuletzt Hansgünther Heymes künstlerischer Leitung, die über die Präsentation einiger Altstars des Regiefachs hinaus nicht mehr viel zu bieten hatte, macht Frank Castorf klar: Für die neuen Ruhrfestspiele wird der Theaterstar seinen Stil nicht der Region anpassen. Seine Fragen an Kunst und Politik bleiben dieselben. Dennoch kann sich das Publikum mit Castorfs Festivalmotto trösten: „No Fear 2004“.

Zum Festspielstart, übrigens am gleichen Tag, als in Berlin das Theatertreffen, diesmal ohne Castorf, begann, inszenierte der Volksbühnenchef „Gier nach Gold“, die Uraufführung seiner Adaption des Romans „McTeague“ von Frank Norris aus dem Jahr 1899. Im Vorfeld hatte der neue Festivalleiter betont, nicht einfach sein Berliner Volksbühnen-Modell, das über die Empathie mit den Verlierern der Geschichte und dem Herauslocken des kreativen Potenzials des Scheiterns zum ästhetischen Gewinner geworden ist, in den Westen exportieren zu wollen. Zu genau kennt Castorf inzwischen die Ängste der Geldgeber von Land, Stadt Recklinghausen und dem Deutschen Gewerkschaftsbund vor einem Berliner Kulturimperialismus. Genau hier, das zeigte der Beginn der Ruhrfestspiele, liegt das Dilemma des neuen Festspielleiters: Wie das Erfolgsrezept ohne Verluste an die Bedingungen des neuen Standorts anpassen?

Dass einiges aus Berlin mit herüberschwappen würde, war schnell ersichtlich: Bert Neumann, Castorfs Bühnenbildner an der Volksbühne, hat gegenüber dem Festspielhaus aus sauberem Stahl und Glas einige Westernbaracken aufgebaut, versehen mit Schildern in slawischen Sprachen und in Englisch: ein Verweis auf den „Weg nach Westen“, der Polen im 19. Jahrhundert und danach in das Ruhrgebiet brachte, und eindeutiges Signal, dass Castorf hier seine Kapitalismusbefragung in Zeiten der Migration fortsetzen wird. Auch das Innere des Festspielhauses hat Neumann besiedelt: mit einem Versuchsgarten, einem Theaterzelt, einer von Jonathan Meese bespielten Bar, einem „Wohnklub“ mit Kneipen-Küche. Castorf will das Festival verjüngen und die Leute nicht nur als Zuschauer hier haben.

In puncto Festivalstimmung geriet der Auftakt trotzdem eher mau. Auf den Premierenfeiern wurde man das Gefühl nicht los, dass alle Anstrengung, das Publikum zu gewinnen, irgendwie verpuffte. Einzig die Internen der Theaterszene fühlten sich in der Küche im Wohnclub wohl.

Zusammen mit dem gemeinen Publikum sahen die in Castorfs Inszenierung einen langen, gut fünf Meter breiten Weg voll mit Erdschlamm als Zentrum der Bühne. Man ahnt: Alle „Gier nach Gold“ wird in Schmutz und Untiefe enden. Bert Neumann hat auch am linken Bühnenrand des Großen Theaters eine Western-Häuserzeile hingestellt, direkt neben der Schlammstraße. Im Haus ganz vorne: die Praxis des Dentisten McTeague (Bernhard Schütz). Weiter hinten das kleine China-Restaurant der irren Maria aus Mexiko (Silvia Rieger) und ein billiger Spielsalon mit Nachtclub. Das Ganze: die mit den Zeichen von Migration, Armut und fehlgeschlagenen Hoffnungen in eine etwas entfernte Gegenwart versetze Adaption von Norris’ Romanwelt.

Der Amerikaner Norris erzählt die Geschichte einer Zerstörung. Die Gier nach dem Mammon vernichtet nicht nur die Protagonisten und Kleinbürger Trina und Mac, sondern mehr oder weniger auch den Rest des Personals. Erich von Stroheim hat Norris’ Roman 1923 unter dem Titel „Greed“ verfilmt und ist damit zur Legende für die Maßlosigkeit der Kunst geworden: 13 Stunden lang war seine ursprüngliche Fassung, die nur auf zwei Stunden verstümmelt ins Kino kam. Castorf bezieht sich auf den Film und verhilft den weggeschnittenen Nebenfiguren wieder zu ihrem Recht. Über sie erreicht er sein Ziel der Darstellung eines Pandämoniums des Trivialen.

Dessen Zeichen trägt Norris’ Geschichte. Das Unglück beginnt, als Trina in einer Lotterie 5.000 Dollar gewinnt. Von da an schlachtet sich das Paar gegenseitig ab, zunächst moralisch, dann auch körperlich: Mac wird Trina erschlagen. Dass die Geldgier auch zwischen Freunden nicht Halt macht, beweist Macs Kumpan Marcus Schouler (Milan Peschel), der Trina zunächst bereitwillig an Mac abtritt, schließlich aber doch dafür sorgt, dass dem ohne Ausbildung praktizierenden Mac die Lizenz entzogen wird. Der Rest sind höllenhafte Streite, mangelnde Triebkontrolle und Gewalt gegenüber Ehefrauen.

Castorfs Inszenierung gewinnt erst in der zweiten Hälfte an Fahrt und Dichte. Davor dümpelt die Sache vor sich hin, die einzelnen Szenen des „Kampfes aller gegen alle“ – einzige These bis zur Pause – laufen unverbunden nebeneinander her, atmosphärische Spannung kommt nur selten auf. Spontane Highlights liefert das Ensemble: Bernhard Schütz als McTeague zitiert immer wieder den Film-Teague, wenn er wie dieser mit blondem Wuschelkopf und fäusteringend an die Rampe stürmt und losbrüllt, dass er vor seiner eigenen Kraft die größte Angst habe.

Im zweiten Teil nimmt die Aufführung dann opernhafte Züge an. Dazu trägt nicht zuletzt Sir Henrys Offmusik bei, ein immer wieder zur großen Geste ausholendes, bizarres Klangkonglomerat aus barocken und volkstümlich-anglofonen Elementen. Castorf lässt die Geschichte jetzt dynamischer mäandern, kaum fällt auf, dass der Abend am Ende zu möglicherweise 80 Prozent auf dem zentral gehängten Videoscreen stattgefunden haben wird. Vor allem lässt der Regisseur im Nachtclub filmen, einem infernalischen Trivialbiotop der Erniedrigten und Beleidigten.

Über das gierschlundige Splatter- und Grand-Guignol-Schlamassel im Club hebt Castorf seine Inszenierung gegen Ende hinaus – mit Hilfe des philosophischen Individualanarchisten Max Stirner. Auf ihn gehen die Fragen zurück, mit denen das Ensemble das Publikum bedrängt: Warum Kunst machen? Als darwinistische Daseinsbehauptung? Diesen tödlichen Zwiespalt hat Castorf mit seiner Inszenierung durchexerziert: das Recht des Einzelnen, der tötet, womöglich sich selbst, wenn er glaubt, der einzige Maßstab für seine Wünsche zu sein, und dies nicht mit seiner Sehnsucht nach Gemeinschaft vereinbaren kann.

Was das Festival selbst betrifft, so bleibt vorerst allerdings der Eindruck, dass Gemeinschaft im Sinne eines neuen Publikums noch erarbeitet werden muss. Offensichtlich muss sich auch das raue Ruhrgebiet an die für dortige Verhältnisse ungewöhnlich explizite politische Großoffensive des von der Volksbühnen-Dramaturgie geprägten neuen Festspielprogramms erst gewöhnen. Das Motto „No Fear“ bedeutet eine Absage an den Funktionstüchtigkeitsterror des globalisierten Kapitalismus und zugleich mit Stirner einen Appell zum Mut zur eigenen Grenze. Außerdem natürlich eine Absage an die gegenwärtige Politik der Angst in den USA und Teilen Europas. Der Festspielleiter hat zu diesen Themen zwölf Uraufführungen bzw. Europa- oder Deutschlandpremieren ins Programm gestellt, die allerdings viele alte Bekannte des avancierten Theaterjetsets versammeln. Neben seiner laufen Produktionen von René Pollesch, Schorsch Kamerun, Christoph Schlingensief, Franz Wittenbrink, Meg Stuart oder Calixto Bieto. Dazu kommen Produktionen aus Brasilien, Frankreich oder Argentinien.

Mit „Pablo in der Plusfiliale“ setzt René Pollesch seine politische Befragung „prekärer“ Arbeitsverhältnisse im Neoliberalismus fort, jetzt unter den Vorzeichen der Migration. Noch immer erzählt der Regisseur und Autor in seinen Stücken keine Geschichte, im Gegenteil: „Wir machen kein Repräsentationstheater!“, spricht Inga Busch irgendwann mit großer Intensität in die Videokamera. Pollesch thematisiert auch die Arbeitsverhältnisse im Theater selbst. Hier wird eben nichts „dargestellt“, sondern theoriefreundliches Theater mit tendenziell subversiven Inhalten auf den ästhetischen Markt geschleust.

Pablo ist Ausländer und räumt bei Plus Regale aus und ein. Als „Figur“ will Pollesch ihn trotzdem nicht, schließlich sitzen wir alle im Plus, wie auch das Theaterzelt und die Lkw-Anhänger der Rollenden Roadshow (noch ein Berlin-Artikel) klar machen, auf denen alles spielt. Sie sind vorwiegend im hässlichen Marken-Orange der Handelskette gehalten. Weil außerdem eine Geschichte über Kunstproduktion erzählt wird – das Ensemble dreht nämlich eine „Telenovela“ –, ist der exzessive Videoeinsatz zumindest konsequent.

René Pollesch arbeitet auch im Ruhrgebiet weiter an der Erfindung eines zeitgemäßen Subjektbegriffs auf dem Theater. Im Prinzip bleibt also alles beim Alten. Das macht nichts, weil die (Nicht-)Ästhetik immer noch trägt und politisch relevant ist. Auch in Recklinghausen. Unter Castorf wird dieser Theaterstil bei den Festspielen weiterhin vertreten sein. Was jetzt noch fehlt, ist die Lust der Leute vor Ort, länger bei der Stange zu bleiben.