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Wir sind begeistert, wie Jan die Tour gemeistert

Wie die Einwohner von Merdingen nebst Mutter Marianne ihren Mitbürger Jan Ullrich im Elsaß aufsuchten  ■ Von Frank Ketterer

Seltsam. Kaum ist Reporter Frank Ketterer in den Bus gestiegen, der die Einwohner des Dorfes Merdingen zum Tour-de-France-Ort Colmar bringt, ist er neben fünf Mark Fahrtkosten offenbar auch seine Identität los. Er schlüpft in das mit einem Radler bedruckte T-Shirt, zieht sich die magentafarbene Mütze mit dem weißen T auf den Kopf und ist – ein Merdinger.

Merdinger zu sein ist eine tolle Sache. Die ganze Republik schaut auf unser kleines Dörfchen. Früher hielt ich es immer für verschlafen. 2.500 Einwohner. Am Fuße des Tunibergs gelegen, gleich rechts neben Freiburg. Andererseits: Vor ein paar Jahren haben wir den zweiten Platz bei „Unser Dorf soll schöner werden“ errungen. Nun sind wir in einem Atemzug zu nennen nur noch mit Leimen und Kerpen.

Jan Ullrich wohnt jetzt schon seit drei Jahren bei uns. Im Ort nennen wir ihn „Ulli“. Ich habe ihn zwar noch nicht getroffen beim Einkaufen oder so, aber er ist da, mit seiner Freundin Gaby. Das weiß ich.

Ehrensache, daß wir uns an diesem Mittwoch auf den Weg gemacht haben rüber nach Colmar, zur 17. Etappe der Tour de France. Drei Busse voll, 140 Leute, der Rest kam nachmittags nach. „Ullis“ Mutter ist auch dabei. Marianne heißt sie und wohnt eigentlich in Rostock. Sie wird ziemlich bedrängt von den Kamerateams und Radioreportern. Uns interviewen sie auch dauernd. So langsam wird das echt lästig. Aber „Ullis“ Mutter macht das klasse. Sagt, daß ihre „Emotionen Purzelbäume“ machen, sie gar nicht damit gerechnet hätte, was da alles auf sie zugekommen ist, und daß ihr „Jani“ – sie nennt unseren Ulli „Jani“ – sehr klug antworte, wenn er immer wieder betone, daß er diese mörderische Tour noch lange nicht gewonnen habe.

Unterwegs winken uns die Leute zu, die schon morgens ihre Campingstühle und -tische am Rande der Straße aufgebaut haben. Irgend jemand sagt, daß gut 50.000 Deutsche an diesem Tag ins Elsaß fahren. Alles wegen unserem Ulli.

Weil wir Merdinger sind, dürfen wir in Colmar mit unseren Bussen bis fast ins Ziel fahren. Kurz vor dem Aussteigen gibt Erich letzte Anweisungen. Erich ist eine Art Merdinger Großgastronom. Heute trägt er sein papageienfarbenes Radtrikot vom RV Edelweiß und macht den Reiseleiter. „Wir wollen angenehm auffallen, wie der Jan auch“, sagt er. Wir nicken. Gleich darauf packen wir die 15 Kartons Merdinger Spätburgunder und unsere Deutschlandfahnen aus und ziehen singend Richtung Ziel. „Ullrich, Ullrich, du bist ein Champ“, singen wir auf die wunderschöne Melodie von „Sierra Madre“. Die Franzosen hören staunend zu. Ich glaube, sie bewundern uns.

Im Zielbereich, gegenüber der großen Videoleinwand, kommen wir gegen halb zwölf an. Jetzt heißt es warten. Und singen. Und Wein trinken. Und immer wieder in eine dieser Kameras lächeln und sagen, daß wir unserem Ulli alles Gute wünschen und ihm ganz fest die Daumen drücken. Zunächst bei Sonne, später auch im Regen.

Neben mir steht Tamara. Die findet alles doch ein bißchen komisch. Das sagt sie jedenfalls einem Reporter. Sie wundert sich, wie schnell wir unseren Ulli einverleibt hätten. Tamara kommt auch aus der DDR. 16 ist sie jetzt und vor 13 Jahren mit ihren Eltern aus dem Erzgebirge nach Merdingen gezogen. Als echte Merdingerin, sagt sie, zähle man sie immer noch nicht. „Bei Jan ist das anders“, sagt sie. Ich denke, Tamara sollte solche Dinge nicht herumerzählen.

Mittlerweile ist der Regen etwas stärker und die Weinflasche etwas leerer geworden. Auch unsere Spruchbänder sind durchnäßt. Lesen kann man sie Gott sei Dank noch. „Jan, wir sind von dir begeistert, wie du die Tour bisher gemeistert“ steht auf dem einen, „Wir grüßen dich, das Team und Riis. Und freuen uns schon auf Paris“ auf dem anderen. Ich wünschte, ich hätte das gereimt. Auf der großen Videoleinwand läuft die Etappe. Wenn wir etwas Gelbes sehen, fangen wir an zu singen und unsere Fahnen zu schwingen. Eineinhalb Stunden geht das so. Dann tauchen die ersten Häuser Colmars auf der Leinwand auf. Die Spannung steigt. Wo liegt unser Ulli? Wann sind sie endlich hie... Wusch! Der erste Fahrer ist an uns vorbei. Er war nicht gelb. Doch dann, da hinten, das sind doch... Singen nicht vergessen, Fahne schwingen, mit der flachen Hand gegen die Bande hauen. Wusch, wusch. Das war doch Ulli, ein Blitz in Gelb.

Er hat uns nicht gesehen, so schnell war er. Wir ihn auch nur ganz kurz. Gleich darauf aber sieht man auf der großen Videowand, wie er ein neues gelbes Trikot übergestreift bekommt. Marianne steht plötzlich neben ihm. Sie herzt ihren „Jani“, Tränen des Glücks in den Augen. Wir jubeln. „Immer noch sechszweiundzwanzig Vorsprung“, sagt einer. Wir jubeln. Ist noch Rotwein da? Dann eben Bier. Das haben wir uns verdient. Es kommt noch das ein oder andere hinzu. Dann fahren wir wieder nach Hause. Wir Merdinger.

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