„Wir sind Kirche“ zum Papst: „Den Vatikan hatte er nicht im Griff“
Die Reformbewegung „Wir sind Kirche“ über den Halbtags-Papst Benedikt XVI., die Auflösung hierarchischer Strukturen und die Krise der Kirche.
taz: Der Papst ist zurückgetreten – das macht ihn ja fast zu einem modernen Papst.
Christian Weisner: Es ist sicher ein historischer und verantwortungsbewusster Schritt. Das Eingeständnis von Benedikt XVI., das Schiff Kirche – wobei das eher ein Riesentanker ist – nicht mehr kraftvoll führen zu können, ist ihm durchaus anzurechen. Modern ist und war Papst Benedikt XVI. deshalb noch lange nicht. Doch ein Rücktritt birgt Chancen – zeigt aber auch die Grenzen des Papstamtes in der katholischen Kirche.
Welche Grenzen?
Es geht um die Leitungsstrukturen. Von ihrer Tradition her ist die katholische Kirche ausschließlich auf diese eine Person an der Spitze fixiert. Das heißt: Die ganze Verantwortung lastet auf den Schultern eines Menschen. Da ist eine Überforderung vorprogrammiert. An diesem hierarchischen Aufbau muss sich etwas ändern.
Gibt es dann am Ende vielleicht mehr als nur einen Papst?
Nein, das nicht. Aber der Nachfolger muss Aufgaben delegieren und die Verantwortung teilen, so wie es auch das letzte Konzil vorsieht. Das gesamte Führungssystem im Vatikan und in der Kurie muss auf den Prüfstand. Stichwort: Vati-Leaks, Pius-Brüder, Finanzaffären. Bei allem Respekt für Benedikt XVI. und sein Lebenswerk, den Vatikan hatte er nicht im Griff, das muss man ehrlicherweise sagen.
Das klingt auch aus Ihrer Sicht nach einer tiefen Krise.
Ja, auf jeden Fall. Ich kann nur hoffen, dass das Kardinalskollegium jetzt nicht nur schnell einen Nachfolger findet, sondern gleich einen neuen Kurs einschlägt. Es geht um die Zukunftsfragen im 3. Jahrtausend, und dazu gehören auch die Aidsbekämpfung, die Familienplanung und die Anerkennung homosexueller Lebensformen. Mit den alten Antworten wird die Kirche diesen Fragen nicht begegnen können. So erreicht sie Menschen nicht mehr. Und das ist wirklich dramatisch, denn die Kirche ist der letzte Global Player, der ein Gegengewicht der Ökonomisierung und der Ausbeutung der Welt sein könnte. Wenn diese große Organisation es nicht mehr schafft, glaubwürdig zu sein, dann ist das ein großer Verlust für die ganze Menschheit.
61, ist gelernter Stadtplaner, arbeitet inzwischen aber ausschließlich als Sprecher der Reformbewegung „Wir sind Kirche“.
Sind Sie froh, dass Benedikt XVI. nun geht?
Nein. Schadenfreude oder Häme sind fehl am Platz. Es ist eher eine tragische Situation.
Was hätten Sie statt Häme und Schadenfreude parat?
Ein bisschen Lob und viel Kritik: Was man sagen muss: Seine Sprache kann faszinieren. Aber er blieb sein Leben lang Professor. Das Charisma der Führung, das dringend nötig ist auf diesem Posten, das hat ihm gefehlt. Er konnte keine Menschen begeistern und wirkliche Dialoge zu führen, fällt ihm schwer. Zudem wollte er sich am liebsten um alles selbst kümmern.
Dabei hatte es ja schon allein mit all seinen Büchern, die er nebenbei geschrieben hat, genug zu tun.
Genau das ist es. Wie kann ich als Teilzeit-Papst für 1,3 Milliarden Menschen Oberhaupt sein, nur weil ich nebenbei noch Bücher schreiben möchte? Seine theologischen Vorlieben waren ihm offenbar wichtiger, die Verantwortung für die Kirche kam dabei zu kurz.
Das Kardinalskollegium besteht aus Menschen, die Johannes Paul II. und Benedikt XVI. berufen haben. Ist da überhaupt jemand dabei, der die Kirche moderner machen kann?
Das ist tatsächlich eine Hypothek, die beide Päpste hinterlassen haben. Ihre Auswahl der Kardinäle entspricht nicht der Verteilung der Katholiken in der Welt. Südamerika und Afrika zum Beispiel sind noch immer unterrepräsentiert. Was das Profil des Nachfolgers angeht, wünsche ich mir, dass er die Weltkirche im Blick hat und mehr von der Welt versteht, als der jetzige Papst. Wenn ich das Kirchenrecht richtig lesen, muss der neue Papst nicht bedingt aus der Reihe der Kardinäle gewählt werden.
Ja, woher soll er denn sonst kommen?
Es könnte zum Beispiel ein Ordensmann sein.
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