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Wir lassen lesenWasser, nicht Bier!

■ Eine zum Buch geronnene Kolumne spürt den Folgen des Sparwasser-Tores nach

Wo waren Sie, als...? Diese Frage erinnert noch heute an Dallas, 1963, Kennedy, tot. In der fußballdeutschen Welt ist alles klar bei Hamburg, 1974, Sparwasser, Tor. Wo waren sie am 22. Juni 1974, als es in der Finalrunde der Weltmeisterschaft in der BRD zum ersten und einzigen Aufeinandertreffen der deutschen Mannschaften kam? Als Jürgen Sparwasser das entscheidende 1:0 gegen Sepp Maier erzielte? Als Kollektivisten gegen Individualisten, als Böse gegen Gut siegte? Als der Kalte Krieg, der Kampf der Systeme sensationell von der „Ostzone“ gewonnen wurde?

Geschichte wird gemacht: der Einmarsch der Kalten Krieger, Hamburg 74 Foto: taz-Archiv

„Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?“ Diese Frage hatte die Journalistin Elke Wittich zu einer Kolumne in der Berliner Wochenzeitung Jungle World inspiriert. 57 ZeitgenossInnen versuchten sich zu erinnern, was sie während dieser ominösen 78. Minute im Hamburger Volksparkstadion taten, ob und wie sie dieses einzigartige Spiel erlebten. Viele hatten es gar nicht gesehen und konnten nur von anderen Erlebnissen oder trostlosen Stunden an jenem Tag berichten. Doch das ist fast durchweg interessanter als direkte Stimmen zum Spiel. So wird Sparwasser gleich zweimal mit dem legendären Wim- Thoelke-Vasallen Walter Sparbier, der in seinen uralten Postuniformen das TV-Quiz „Der Große Preis“ aufzupeppen versuchte, verwechselt. Solche Bonmonts lassen den Geist der 70er manchmal wirklich durchscheinen, ohne in das blöde Retro-Fettnäpfchen zu tappen.

Der Beitrag des vermeintlich interessantesten Augenzeugen, Jürgen Sparwasser höchstpersönlich, ist allerdings unerwartet langweilig. Sepp Maier immerhin antwortet gewohnt valentinesk: „Blöde Frage. Am Boden war ich gelegen.“

Ebenfalls vornehmlich anregende Rückschau halten westdeutsche Geistesgrößen wie F. W. Bernstein, Matthias Altenburg, Peggy Parnass, Ror Wolf, Jürgen Roth und Gerhard Zwerenz. Für den Osten erinnern sich Reporter wie Hagen Boßdorf, Heinz-Florian Oertel, aber auch Politiker wie André Brie und Showstars wie Puhdys- Sänger Dieter „Maschine“ Birr. Es findet sich aber auch die knallharte politische Replik des Politologieprofessors Klaus Hansen, der meint, es habe schon eine Revanche für die sportliche Niederlage Hamburg 74 gegeben: den 3. Oktober 1990, nämlich im Wiedervereinigen: BRD: 1, DDR: 0.

Im Klappentext des Buches heißt es nicht einmal übertrieben, man erfahre etwas vom Lebensgefühl der 70er. Tatsächlich sind die unaufgeregten Stellungnahmen eine Erholung im Vergleich zu anderen Sportbüchern. 1974 war für den deutschen Fußball und Sparwasser nicht nur wegen der WM ein magisches Jahr. Bayern München holte zum dritten Mal den Europapokal der Landesmeister, und im EC 2, wie der Europapokal der Pokalsieger in der DDR hieß, besiegte der 1. FC Magdeburg, für den Sparwasser stürmte, den ruhmreichen AC Mailand unter Trainer Giovanni Trapattoni mit 2:0 – der erste und einzige Europapokaltitel für den DDR-Fußball.

Noch in anderer Hinsicht stellte dieser Sieg über Milan einen Superlativ auf, es war mit 4.944 Zuschauern im Feyenoord-Stadion zu Brüssel das am schlechtesten besuchte Finalspiel der Europapokalgeschichte, woran auch 350 ausgesuchte Fußballfans aus Magdeburg nichts ändern konnten. Es ist zu hoffen, daß dieses Kolumnensammlung nicht zum am schlechtesten verkauften Werk der Fußballbuchgeschichte wird, denn das hätte es wirklich nicht verdient. Mathias Stuhr

Konkret Literatur Verlag, Hamburg, 128 Seiten, 24 DM

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