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„Wir haben einen Science-Fiction-Film gemacht“

Je abstruser die Idee, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie Wirklichkeit wird: Regisseur Peter Fleischmann über die Entstehung seines Films „Die Hamburger Krankheit“

Interview Wilfried Hippen

taz: Herr Fleischmann, Ihr über 40 Jahre alter Film „Die Hamburger Krankheit“ ist plötzlich sehr aktuell geworden. Man sieht heute darin etwa die leeren Straßen und Menschen mit Schutzmasken mit ganz anderen Augen. Können Sie hellsehen?

Peter Fleischmann: In den letzten Wochen haben viele Freunde und auch Unbekannte mir geschrieben und gefragt, wie es möglich war, dies vorauszusehen. Aber das haben wir ja gar nicht. Ich habe mit Roland Topor und Otto Jägersberg, die mit mir das Drehbuch geschrieben haben, einen ­Science-Fiction-Film gemacht. Je fern liegender und abstruser da die Ideen sind, desto größer sind die Chancen, dass sie zur Wirklichkeit werden. Wenn man eine Statistik hochrechnet und glaubt, so vorhersagen zu können, wie die Zukunft aussehen wird, dann liegt man garantiert daneben. Deshalb haben wir gerade unsere wahnsinnigsten Fantasien ins Drehbuch geschrieben.

Trotzdem wirkt die Geschichte nicht nur surreal, sondern auch realistisch.

Es wichtig, dass man die Menschen, von denen man erzählt, mag. So kann man sich in sie ­hineinversetzen und sich vorstellen, wie sie in einem extremen Fall reagieren würden. Man darf sie nicht in Schubladen tun und sie nicht in die Guten und die Bösen trennen.

Das Leben in Zeiten der Coronakrise hat ja oft etwas Absurdes, und so ist es auch in Ihrem Film. So gibt es da eine Hausfrau, die sich, während um sie herum die Menschen sterben, in tiefstem Hessisch darüber aufregt, dass ihre „Schottedeck“ nicht da ist.

Das ist meine Art von Komik, bei der sich mitten in der Epidemie jemand darüber beschwert, dass er einen Kratzer am Auto hat oder dass eine gemusterte Wolldecke fehlt. Es ist ja das Tolle bei solchen Extremsituationen, dass sie die Leute von den oft etwas kläglichen Beschäftigungen abbringt, die der Alltag ihnen auferlegt, Und dann werden auch unwichtige Sachen für lebenswichtig gehalten wie etwa Klopapier.

Peter Fleischmann, 82, war in den 1970er-Jahren ein führender Vertreter des Neuen Deutschen Films. Sein bislang letzter Film „Mein Freund, der Mörder“ kam 2006 heraus.

In „Die Hamburger Krankheit“ gibt es einen körperlich behinderten Rollstuhlfahrer, der mit einer anarchistischen Aggressivität versucht, unbedingt seinen Willen durchzusetzen. Er wirkt wie ein Vorläufer des inklusiven Kinos und von Filmen aus den letzten Jahren wie „Hasta la vista“ oder „Vincent will Meer“.

Mein Lieblingsfilm ist „Freaks“ von Tod Browning, weil da eine Umkehrung der Verhältnisse stattfindet. Die Darsteller sind die Mitglieder einer Freakshow auf einem Jahrmarkt, und erst denkt man, man kann es nicht aushalten, diese verkrüppelten Menschen den ganzen Film lang anzusehen. Doch nach zehn Minuten wirken die Freaks wie die Gesunden und die „normalen“ Menschen kommen einem wie Monster vor. Bei mir sagt Ottokar, der Rollstuhlfahrer: „Die Gesunden haben unsereins geschunden“, und er freut sich darüber, dass jetzt die Gesunden krank sind und er Oberwasser hat. In all meinen Filmen hat mein Herz immer für die Minderheit, für die Ausgeschlossenen geschlagen. Und da ist die Krankheit dann auch eine Chance. Der Grabredner bei einer Beerdigung im Film sagt: „Krisenzeiten sind Sternstunden der Menschheit.“

Ein Witz des Films ist ja auch, dass dieser Rollstuhlfahrer von dem spanischen Autoren des absurden Theaters, Fernando Arrabal, gespielt wird. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Mein früherer Film „Dorotheas Rache“ war in Frankreich ein Erfolg, und die surrealistische Bewegung „Groupe Panique“, zu der neben Arrabal auch Roland Topor und Alejandro Jodorowsky gehörten, haben mir dafür ihren „Priz du Groupe Panique“ verliehen. Wir wurden dann Freunde. Topor hat einige Jahre später das Drehbuch der „Hamburger Krankheit“ mit mir geschrieben und Arrabal hat als Darsteller mitgespielt. So fand mein Film zu einer neuen Form von Surrealismus, in der es genügt, ein bisschen an einer Schraube zu drehen, um das Reale zum Einsturz zu bringen.

Es gibt in ihrem Film aufwendige Actionszenen. So überfährt etwa ein Panzer ein Auto und wird danach von einem Hubschrauber angegriffen. Hatten Sie dafür ein großes Budget?

Das Gegenteil war der Fall. Ich habe mit dem Film angefangen, obwohl wir erst die Hälfe des Geldes zusammen hatten. Deshalb mussten wir uns was einfallen lassen. Bei dem Panzer haben wir etwa bei der deutschen Bundeswehr angefragt, doch von denen gab es nur die Antwort von der Pressestelle: „Ein deutscher Panzerfahrer fährt nicht Amok.“ Aber die Engländer von der Rheinarmee waren ganz begeistert von der Idee und die haben hinterher das vom Panzer zerquetschte Auto in ihrem Offizierskasino ausgestellt.

Einer der Höhepunkt des Films ist eine Sequenz auf einem Marktplatz voller Menschen, die tatsächlich wie eine Masse reagieren. Wie ist es dazu gekommen?

Mein Standfotograf war Günter Zint aus Hamburg, und der kommt aus Fulda, hatte dort also die richtigen Kontakte. So hat der Redakteur einer Lokalzeitung in einem Aufruf gefragt, wer denn mal in einem Film mitspielen wolle. Der Platz war dann voll, und als der Filmbürgermeister auf der Bühne gesagt hat: „Liebe Mitbürger, der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland ist tot!“ ist ein Schauer durch die Menge gegangen. Die wussten ja, dass es für den Film war, aber es blieb ein Sakrileg, so etwas über Lautsprecher auf diesem öffentlichen Platz zu sagen. Eigentlich hatten wir erst einmal nur Probeaufnahmen machen wollen, aber ich habe dann dem Kameramann gesagt: „Dreh, dreh, dreh, die machen das kein zweites Mal.“

„Die Hamburger Krankheit“ ist auf dem Filmportal Vimeo über den Link https://vimeo.com/ondemand/diehamburgerkrankheit zu sehen

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