: „Wir ertragen Natur nur noch in kleinen Dosen“
Naturschutz kann nur erfolgreich sein, wenn er sich auch an den menschlichen Realitäten orientiert, sagt der Wildtierexperte Jörg Melzheimer
Interview Heike Holdinghausen
taz: Sie forschen zu Geparden in Namibia und wie diese mit Landwirten dort zusammen leben können. Welche Konflikte beobachten Sie dort?
Jörg Melzheimer: Die sind ganz ähnlich wie die zwischen Weidetierhaltern und Wölfen in Deutschland. Geparden leben nicht nur in Nationalparks, sondern auch auf Farmland. Dort weiden Rinderherden auf riesigen Flächen, eine extensive Form der Nutzung. Auf dem Weideland leben auch alle möglichen Antilopenarten. Die stellen die Hauptnahrung der Geparden dar, aber eben nicht die einzige. Manchmal verlieren die Landwirte Tiere an die Geparden. Das kann ein Kälbchen im Jahr sein – das ist dann ein Schaden von 500 Euro. Es können aber auch 20 bis 30 Kälbchen sein, und das ist dann schon ein erheblicher Verlust für die betroffenen Farmer.
taz: Gibt es denn Geparden, die lieber Kälber fressen als Antilopen?
Melzheimer: Nein. Die Lösung des Rätsels war anders. Geparden leben verstreut in riesigen Gebieten. Um dennoch Kontakt mit Artgenossen aufzunehmen, richten sie Kommunikationszentren ein. Das kann ein markanter Baum sein oder ein Hügel. Den markieren dann alle Geparden, das dient der Partnersuche. Das führt dazu, dass in der Nähe der Kommunikationszentren 20 Mal so viel Gepardenaktivität stattfindet wie im Umland – das heißt, sie suchen diese Plätze auf und verlassen sie wieder. Es ist klar, dass Farmer, die ihre Mutterkühe mit Kälbern in der Nähe dieser Zentren weiden lassen, mehr Tiere verlieren, als wenn sie Herden weitab davon grasen lassen.
taz: Wieso wussten das die Farmer nicht?
Melzheimer: Na ja, selbst in der Nähe der Kommunikationszentren werden Farmer sicher Gepardenspuren finden, aber quasi keine Geparden. Man kann in Namibia als Rinderfarmer sein ganzes Leben verbringen, ohne diese seltenen und scheuen Tiere je zu sehen. Bis wir mit unserem Forschungsprojekt das Phänomen der Kommunikationszentren erkannt haben, mussten wir 150 Tiere besendern, das hat sechs, sieben Jahre gebraucht und war ziemlich teuer.
taz: Gehen die Farmer diesen Zentren jetzt einfach aus dem Weg?
Melzheimer: Genau, das geht ganz gut. Löwen reißen mitunter auch erwachsene Rinder, Geparden aber nicht. Die gehen nur an Kälbchen, die höchstens drei bis vier Monate alt sind. Die hoch frequentierten Flächen mit hoher Gepardendichte belegen die Farmer daher nur noch mit Ochsen oder erwachsenen Tieren, die Mutterkuhherden lassen sie dort nicht mehr hin. So konnten wir mit unserer Forschung über 80 Prozent der Verluste reduzieren. Das hilft auch den Geparden. Naturschutz muss ökonomisch funktionieren, das ist leider so.
taz: Namibia ist eins der am dünnsten besiedelten Länder der Welt, 3,7 Einwohner pro Quadratkilometer. In Deutschland sind es 237 – es ist dicht besiedelt. Können wir trotzdem etwas von den Farmern aus Namibia lernen?
Melzheimer: Naturschutz in Deutschland ist komplexer und schwieriger, das ist klar. Trotzdem könnten beide Seiten – die Naturschützer und die Landbesitzer – auch hierzulande unaufgeregter zusammen arbeiten. Dann finden sich nämlich häufig doch Lösungen. Ich finde, dass auch die Natur- und Tierschützer beim Wolf große Fehler gemacht haben. Sie haben die Landwirte und Jäger nicht hinreichend mitgenommen, sie waren viel zu konfrontativ.
In einem dicht besiedelten Land wie unserem müssen sich die Ziele des Naturschutzes eben auch an der menschlichen Realität orientieren. Man kann Wölfe ins Jagdrecht aufnehmen und einige gezielt schießen, obwohl es mir um jeden Wolf leid tut. Aber wenn das am Ende zu einem besseren Zusammenleben führt, ist es das wert.
taz: Unsere Vorfahren haben Tiere wie Wölfe, Bären und Wisente ausgerottet, weil sie halt gestört haben. Müssen wir das akzeptieren?
Melzheimer: Ich wünsche mir Deutschland als ein Land, in dem Wisente und Wölfe frei leben können. Aber ich muss anerkennen, dass die Mehrheit der Menschen vor Ort das offenbar kritisch sieht. Es sind ja nicht nur die Landwirte, die dagegen waren. Die Bevölkerung hat zum Beispiel den Anspruch, jederzeit mit 100 Kilometern pro Stunde über die Landstraße rasen zu können, weil sie das eben so gewohnt ist. Wenn ich mit 100 Kilometern pro Stunde gegen ein Reh fahre, dann habe ich einen Versicherungsschaden von ein paar Tausend Euro und das Reh ist tot. Wenn ich mit 100 gegen einen Wisent fahre, bin ich tot. Darum passen diese großen Tiere wahrscheinlich nicht mehr in unsere Landschaft, so wie sie heute ist. Auch wenn mir das leid tut, müssen wir wohl anerkennen, dass wir in Deutschland Natur nur noch in sehr kleinen Dosen ertragen, geregelt und kontrolliert.
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