: „Wir dürfen den 4. Juni 1989 nicht vergessen“
Mit verstärkten Sicherheitsvorkehrungen, doch selbstbewußter als vor einem Jahr, hat sich die chinesische Regierung auf den zweiten Jahrestag der blutigen Niederschlagung des Pekinger Frühlings am 4. Juni 1989 vorbereitet ■ Aus Peking Boris Gregor
Tanzen sollen die StudentInnen. Im neuen Kulturhaus der Peking Universität bewegen sie sich im Walzertakt über das Parkett, Mädchen und Jungen wechseln scheue Blicke — Frühling in Peking. Diese Aktivität ist recht nach dem Willen der Universitätsfunktionäre: Neben dem Studium sollen die Hochschüler der Universität kultiviert und brav ihre Freizeit verbringen. Und um sicherzugehen, daß sie und die Studenten anderer Hochschulen nicht auf unliebsame Gedanken kommen, sollen in diesem Sommer mehr als eine Million HochschülerInnen in Fabriken und auf dem Lande arbeiten.
Doch die Kommilitonen der Pekinger Uni, die nur wenig vom Kulturhaus entfernt wohnen, sind in diesen Tagen nicht so gehorsam, wie die Genossen es gerne hätten. In den Wohnheimen werden Protestaktionen diskutiert: Der 4. Juni, das gewaltsame Ende des Pekinger Frühlings jährt sich zum zweiten Mal.
In der vorigen Woche warfen sie bereits mutig Flugblätter aus den Fenstern und hängten ein Banner auf: „Wir dürfen den 4. Juni nicht vergessen.“ Auch Flugblätter sollen aus den Wohnheimen geworfen worden sein, auf denen aufgefordert wurde, am 4. Juni Weiß zu tragen — die Farbe der Trauer. Laut Univerwaltung war dies der Versuch, „Unruhe zu stiften und die Stabilität der Unversität zu stören“. Die meisten Studenten und Lehrer seien „extrem ärgerlich“ über diesen Zwischenfall gewesen, hieß es. Um weiteren Ärger zu vermeiden, haben die Behörden die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt, Staatssicherheitsagenten und Uniformierte auf dem Campus postiert und alle Studenten vor neuen Protestaktionen gewarnt. Teilnehmer und auch Zuschauer würden streng bestraft werden. Gleichwohl schlossen Studenten vorige Woche neue Proteste nicht aus. Wenn es sie gäbe, würden sie aber bescheiden ausfallen: „Sie sehen ja die Überwachung, da kann man nicht viel ausrichten“, sagte einer und schob eilig sein Fahrrad von dannen.
Das Aufflackern von Widerstand täuscht nicht darüber hinweg, daß sich zwei Jahre nach dem Tiananmen-Massaker unter den meisten Arbeitern, Schüler und Studenten Resignation und Passivität ausgebreitet hat: Zwar ist das Entsetzen über das Blutbad nach wie vor groß, doch die Hoffnung, in nächster Zeit etwas gegen die korrupte KP mit ihren acht mächtigen Gerontokraten, einem farblosen Parteichef und einem hölzernen Ministerpräsidenten an der Spitze, bewerkstelligen zu können, hat sich zerschlagen: Der Rückzug in die private Nische hat begonnen.
Die Jugendlichen befassen sich mit ihrem eigenen Fortkommen, treten, so behauptete es zumindest die KP kürzlich triumphierend, in die Partei ein, um die Karriere zu sichern und träumen vom privaten Glück und viel Geld, einem eigenen Haus und vor allem von einer Auslandsreise.
„Lassen sie mich mit Politik in Ruhe“, sagte ein 25jähriger Angestellter eines Pekinger Joint-venture. Ihn interessieren gutes Essen und ein gemütlicher Abend mit seiner Frau in einer der zahlreichen hauptstädtischen Karaoke-Bars.
Bei dieser Stimmungslage kann sich der Staat eine im Vergleich zum vorigen Jahr entspanntere Haltung vor dem Jahrestag leisten. Jedoch kontrolliert die Verkehrspolizei in diesen Tagen auffällig viele Autos.
Am Platz des Himmlischen Friedens standen seit dem Wochenende zahlreiche Polizeiautos, Uniformierte behielten aufmerksam die Passanten im Auge. Am Montag war der Tiananmen zeitweise gesperrt. Soldaten patrouillierten auf dem Platz. Ein paar Konzerte des populären Popsängers Cui Jian hatten die Behörden, aus Furcht vor der großen Menge Jugendlicher, kurzfristig abgesagt.
Doch bei vielen ist der 4. Juni mittlerweile in den Hintergrund des Alltags geraten. Die Bürger müssen zum Beispiel mit durch die Streichung staatlicher Subventionen verursachten empfindlichen Preissteigerungen fertigwerden.
Die Propaganda kämpft nach wie vor heftig gegen „bürgerlichen Liberalismus“ und die Einführung „friedlicher Evolution“ sowie die „sechs Sünden“, doch manche Kampagne hat, so scheint es, mittlerweile an Schwung verloren. Selbst in abgelegenen Provinzen haben zum Beispiel schwummrige Bars aufgemacht, Prostitution ist verbreitet. „Vor allem im Süden machten die Betriebe, was sie wollen“, sagt ein deutscher Firmenrepräsentant. Dort beherrschen tragbare Telefone und moderne Toyotas das Stadtbild, Verträge werden fröhlich und unbürokratisch abgeschlossen.
Um Gelassenheit zu demonstrieren und den Amerikanern, die über die Meistbegünstigungsklausel im Handel mit Peking entscheiden, entgegenzukommen, wird von den chinesischen Behörden die Freilassung einiger als Konterrevolutionäre verurteilte Studentenaktivisten nicht ausgeschlossen.
Drei ehemals führende Politiker, die sich mit dem gefeuerten Parteichef Zhao Ziang für eine friedliche Lösung des Konflikts und einen Dialog mit den Studenten ausgesprochen hatten, sind nun offiziell rehabilitiert: Hu Qili, ehemals Politbüromitglied, wurde stellvertretender Maschinenbauminister; der damalige Chef der „Vereinigten Front“, dem Zusammenschluß der nichtkommunistischen Parteien, Yan Ningfu, wurde nun Vizepräsident im Ministerium für zivile Angelegenheiten, der Personalabteilung des chinesischen Staatsapparates; und Rui Xingwenn, früher ZK-Sekretär und auch Parteichef von Shanghai, soll einer der Vizeminister in der Staatlichen Plankommission werden. Mit der Rehabilitation der Reformer will die Partei ihr Image als Organisation aufpolieren, die mit sündigen Schafen großzügig umgeht, wenn sie sich reuig zeigen.
Proteste in Hongkong
Hongkong (ap/taz) — Trotz unverhüllter Warnungen aus China haben am Wochenende mehr als zehntausend Menschen in Hongkong zum Gedenken an die Niederschlagung der Demokratiebewegung in der VR China demonstriert. Mit Sprechchören wie „Vergeßt nicht den 4. Juni“ und „Beendet die Einparteienherrschaft in China“ erinnerten die Demonstranten an das Massaker.
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