: „Wir brauchen Inseln der Liebe“
Daniel Schreiber ist davon überzeugt, dass Liebe gegen politische Polarisierung hilft. Ein Gespräch über Härte, Feindbilder, Hannah Arendt und Schreibworkshops
Interview Nina Apin
taz: Herr Schreiber, Sie rufen in Ihrem neuen Buch zur Liebe auf. Warum?
Daniel Schreiber: Lange habe ich eine große Lähmung gespürt, eine Ohnmacht angesichts der politischen Lage, der Vielzahl der bedrohlichen Entwicklungen und vor allem angesichts dieser Kultur des Hasses, die uns seit einiger Zeit entgegenschlägt. Beim Nachdenken darüber, wie ich aus der Lähmung rauskomme, ist mir immer wieder der Begriff der Liebe eingefallen. Ich glaube, wir brauchen sie gerade jetzt.
taz: Der Welt sei jede Form von Liebe abhandengekommen, schreiben Sie. Woran machen Sie das fest?
Schreiber: Zum einen an der Entgrenzung unserer medialen und politischen Diskurse. Ich finde es erschreckend, dass auch im demokratischen Parteienspektrum immer häufiger aus politischen Gegnerinnen und Gegnern Feinde gemacht werden. Dass das, was Hannah Arendt die langwierigen und langweiligen Prozesse des Überzeugens, Überredens, Verhandelns und Kompromisseschließens genannt hat, offensichtlich nicht mehr funktioniert. Das hat damit zu tun, dass wir einer größer werdenden Gruppe von Menschen eine Rhetorik des Hasses erlaubt haben. Die Auswirkungen spüren wir derzeit überall.
taz: Sie fühlen sich retraumatisiert durch den politischen Aufstieg der AfD. Was haben Sie erlebt?
Schreiber: Ich bin im ländlichen Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen, in jener Zeit, die man heute als Baseballschlägerjahre bezeichnet. Es war eine grundlegende Erfahrung für mich, vor Neonazibanden in Springerstiefeln wegzulaufen. Zu wissen, dass man, auch als schwuler Mann, an bestimmte Orte nicht gehen kann. Wenn man sich den Anstieg rechtsextremer Angriffe anschaut, auf Menschen, die anders denken oder aussehen, auf die Wahlkampfbüros demokratischer Parteien, dann muss man feststellen: Die Baseballschlägerjahre sind zurück.
taz: Fühlen Sie sich bedroht?
Schreiber: Die Statistiken zeigen: Die Bedrohung ist real. Im vergangenen Jahr sind rechtsextreme Straftaten um 47 Prozent gestiegen – und das sind nur die, die bekannt wurden. Für mich persönlich waren außerdem die Wahlen in Amerika ein Wendepunkt. Ich hatte das Gefühl: Hier geht gerade eine Zeit zu Ende, in der sich viele Minderheiten und traditionell benachteiligte Gruppen gesellschaftlich frei bewegen und sich äußern konnten, nicht alle, natürlich, aber mehr als je zuvor. Der rechte Backlash hat das in erschreckend kurzer Zeit zunichtegemacht.
taz: Die politische Lage ist deprimierend. Was kann Liebe da ausrichten?
Schreiber: Der Begriff ruft zunächst Skepsis hervor. Oder Abwehr, mit der Frage: Sollen wir jetzt auch noch die Rechtsextremen lieben, Menschen, die uns Böses wollen? Es wird Naivität unterstellt, Sentimentalität. Aber all das ist Liebe nicht. Seit der Antike leuchten Liebeskonzeptionen Dimensionen von Gemeinschaftlichkeit aus, die uns als Gesellschaft abhandengekommen sind: ein Fokus auf Gemeinwohl und Gemeinsinn etwa. Die Verantwortung für nachfolgende Generationen in einer Gesellschaft, die Solidarität, Menschlichkeit und Fürsorge mit Schwächeren praktiziert und wertschätzt. Wir haben in den letzten Jahrzehnten mit der schrittweisen Abkehr von einer sozialen Marktwirtschaft, mit der Dominanzergreifung neoliberaler Diskurse erlebt, wie von all diesen Dingen Abstand genommen wurde. Als wären sie ein Luxus. Die Wahrheit aber ist, dass demokratische Gesellschaften nicht ohne diese Dinge existieren können.
taz: Trotzdem: Hat nicht Hannah Arendt recht, die fand, Liebe habe in der Politik nichts zu suchen?
Schreiber: Hannah Arendt lehnte Liebe als politisches Ziel ab, da sie das Missbrauchspotenzial erkannte. Aber sie beschrieb sie eben auch als die unabdingbare Grundlage für politische Mitgestaltung. Zeit ihres Lebens stellte sie sich die Frage: Warum ist es so schwer, die Welt zu lieben? Warum ist es schwer, unsere Welt und unsere Gesellschaft politisch zu gestalten? Ich stelle mir diese Fragen heute auch. Warum haben wir davon Abstand genommen, die Gesellschaft für alle besser machen zu wollen? Warum haben wir die genannten Dimensionen der Liebe aus unserem, auch politischen Vokabular verbannt? Warum geht es nur noch um Härte, um Machtfragen, um Deals und Feindbilder?
taz: Sie schreiben über eine von radikaler Liebe getriebene Politik, etwa bei Martin Luther King oder Gandhi. Zu deren Zeiten waren die Fronten klarer. Heute ist die Lage unübersichtlicher, auch innerhalb des progressiven Spektrums.
Schreiber: Der progressive Teil der Bevölkerung war noch nie eine einheitliche Bewegung. Aber ich finde es erschreckend, wie sehr auch hier in den letzten Jahren eine Rhetorik der Feindschaft Einzug gehalten hat – statt zu fragen, bei welchen Grundsätzen man übereinstimmt, für welche Ziele man kämpft. Dahin müssen wir aber wieder kommen, um der rechtsextremen Bewegung etwas entgegenzusetzen.
taz: Den Rechten mit Liebe begegnen – heißt das, mit Rechten reden?
Schreiber: Ich persönlich glaube, dass es nicht möglich ist, mit rechtsextremen Politikmachenden zu sprechen. Sie sind nicht an einem Dialog interessiert. Ich glaube aber, dass man mit rechtsextrem Wählenden reden muss. Die gehören nicht selten zu der Gruppe von Menschen, die politisch de facto nicht mehr repräsentiert werden, für die unsere Gesellschaft nicht mehr funktioniert. Wichtig ist, dass wir den rechtsextremen Kulturkämpfen nicht folgen, weil sie uns von den eigentlichen Problemen ablenken und uns weiter spalten. Wir sollten diese Scheindebatten ignorieren. Das heißt auch für die Medien, zu erkennen, das ist ein geplanter Kulturkampf, der nichts mit unserer Lebensrealität zu tun hat.
taz: Dann kommt aber schnell der Vorwurf, Medien würden bestimmte Themen unterschlagen.
Daniel Schreiber
ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Er schreibt Bücher, die zwischen erzähltem Sachbuch und persönlichem Essay changieren. Das Buch, das ihn bekannt machte, „Nüchtern. Über das Trinken und das Glück“ erschien 2014. 2025 war er der Kurator des Literaturfests München, er wählte das Motto „Sprachen der Liebe. Wie wollen wir leben?“ Sein aktuelles Buch „Liebe! Ein Aufruf“ ist soeben bei Hanser Berlin erschienen.
Schreiber: Ja, und wenn man auf diese Argumentation hereinfällt, bestätigt man unfreiwillig, dass es nur diese beiden Seiten gibt, die der Rechtsextremen und die des Rests. Es gibt eben so viel mehr als zwei Seiten. Um die Logik der Polarisierung zu durchbrechen, müssen wir entschieden für eigene Ziele eintreten und neue politische Pole bilden – und dabei in einer parteiübergreifenden Allianz arbeiten und trotz der parteipolitischen Unterschiede aufs Gemeinsame schauen. Probleme, die es politisch zu lösen gilt, haben wir wirklich genug.
taz: Sie zitieren Erich Fromm mit einem bemerkenswert pessimistischen Gedanken: Menschen fühlten sich stärker von der Zerstörung angezogen als von der Liebe zum Leben. Glaubte nicht mal der Hohepriester der freien Liebe an die Liebe?
Schreiber: Diese Befürchtung hat Fromm in einem Brief an eine britische Journalistin geäußert. Das war seine persönliche Angst, eine Gefahr, die er sah. Unter anderem, weil viele Menschen angesichts gesellschaftlicher Verwerfungen und politischer Verbrechen zwar häufig dagegen sind, aber nichts tun.
taz: Geradezu prophetisch, wenn man an das kollektive Verhalten anlässlich der Klimakrise denkt.
Schreiber: Ja, aber man muss auch sehen, dass Fromm dieser Angst ein breites Verständnis von Liebe entgegenstellte: nicht als Gefühl, sondern als Tätigkeit. Liebe und Liebe zum Leben gehören ihm zufolge grundsätzlich zum Menschsein. Das widerspricht dem neoliberalen Dogma, dass uns allein Dinge wie Konkurrenz und Wettbewerb antreiben. Fromm erwiderte auf das Argument, es sei naiv, über Liebe zu reden, dass es naiv sei, nicht über Liebe zu reden. Ohne die Lebenspraxis der Liebe können Gesellschaften schlicht nicht bestehen.
taz: Sie kommen in Ihrem Buch immer wieder auf einen Schreibworkshop zurück, den Sie in einem Haus auf dem Land geben. Ist das für Sie eine Form von Liebe, kleine Inseln des Miteinanders zu schaffen?
Schreiber: Ja, und ich glaube, das ist eine der grundlegenden Sachen, die wir im Alltag tun können: Gemeinschaften zu bauen, in denen eine andere Form des Miteinanders möglich ist, uns unsere Geschichten zu erzählen und einander zuzuhören, ohne Verurteilung, ohne Beschämung. Das können alle möglichen Gemeinschaften sein, die Schreibworkshops sind nur ein Beispiel aus meinem Leben. Wir brauchen diese Keimzellen der Liebe. Wir brauchen diese Inseln des Trosts und des Widerstands.
taz: Sie sagen, es sei gar nicht möglich, die Welt nicht zu lieben. Wie passt das zu der kollektiven Lähmung, die Sie eingangs beschrieben haben?
Schreiber: Ich sage, dass wir letztlich gar keine andere Wahl haben, als unsere Welt zu lieben. Wir können unserem Zynismus folgen, unserer Verzweiflung. Aber das wird nichts ändern oder dafür sorgen, dass wir uns besser fühlen. Es gibt keine Alternative zur liebenden Mitgestaltung der Welt. Sonst übernehmen das die Menschen, die die Welt und andere Menschen nicht lieben. Deswegen habe ich dieses Buch geschrieben: um Menschen aus ihrer Resignationsagonie, aus ihrer Verzweiflungsapathie zu holen, die ich selbst viel zu gut kenne. Um Kräfte zu wecken, ohne zu moralisieren. Um unsere ethische Muskulatur zu stärken und unseren Gemeinsinn wiederzuerwecken.
taz: Also: Öfter miteinander reden im neuen Jahr?
Schreiber: Warum nicht? Das ist doch eigentlich etwas, was man sein ganzes Leben lang lernt: anderen Leuten zuzuhören, auch wenn man nicht einer Meinung ist. Und wenn man dabei darauf achtet, was einen trotz allem verbindet, kommt man vielleicht auf neue Art zusammen. Und findet so sogar die eigene politische Kraft wieder.
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