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■ Will man heute einen politischen Gegner moralisch verdammen, muss man ihn nur des Neoliberalismus bezichtigen. Egal, was man zu verändern versucht, auf das Böse in jeder Spielart wird der Begriff angewendet. Ein Plädoyer gegen den Missbrauch.  Von Ulrike FokkenDas Böse im neoliberalen Gewand

Der Feind hat wieder einen Namen: Er ist neoliberal. Wer für den kontrollierten Zuzug von Ausländern eintritt, ist neoliberal – er grenzt aus und denkt nur an die billigen Arbeitskräfte. Wer eine leistungsorientiertere Bildung an Schulen und Universitäten fordert, ist neoliberal – er ist gegen die Chancengleichheit. Und wer den Bundeshaushalt sanieren will, ist sowieso neoliberal – er will die soziale Ungleichheit und vor allem Ungerechtigkeit zementieren.

Neoliberal ist heutzutage jeder, der den Staat und mit ihm die Gesellschaft zu verändern versucht. Dabei treffen sich die ehemals politisch Verfeindeten aus dem linken und dem rechten Lager in erstaunlicher Einigkeit wieder. Denn beide – Sozialdemokraten und Unionsanhänger – sind Traditionalisten, die an den Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte hängen. In der Vergangenheit warfen sie sich gegenseitig Attribute an den Kopf, die den jeweils anderen ins politische Aus bugsieren sollte. Riefen die Linken noch „reaktionär!“, schrien die Rechten schon hysterisch „Sympathisanten!“. Schallte aus dem einen Lager „strukturkonservativ“, fiel dem anderen „rote Socke“ ein.

So überstanden Politiker und politisch Aktive jeglicher Coleur die vergangenen Jahrzehnte in ihren Arbeitsgruppen und festigten das, was jetzt geprüft und verändert werden muss. Denn die komplexen Systeme, die sich hinter den Worten Gesundheitsreform, Sparpaket und Vollbeschäftigung verbergen, taugen offensichtlich nicht mehr. Sie stammen aus den ersten fünf Jahrzehnten der Bundesrepublik, und sie müssen unbestrittenermaßen für den Fortbestand dieser Gesellschaft verändert werden.

Die angestrebten Veränderungen sind tatsächlich jedoch längst nicht alle liberal, geschweige denn neoliberal. Wenn Finanzminister Hans Eichel (SPD) 30 Milliarden Mark einsparen will, ist das durch und durch konservativ. Er will bewahren und den Haushalt sichern. Den Sozialstaat abzuschaffen liegt Eichel fern, auch wenn er den Sozialetat nicht schont.

„Wir Liberalen denken liberal und sind deswegen liberal“, ließ Loriot einen blassen Politiker in einem seiner Sketche auf jede Frage eines Moderators wiederholen. Liberalismus scheint in der Tat Ende des Jahrhunderts ein konturloses Wesen zu sein, das nur dank der Talkshow-Auftritte des FDP-Generalsekretärs Guido Westerwelle überlebt.

Dabei ist Deutschland ein liberales Land, in dem die Forderungen des Liberalismus seiner verschiedenen Schulen zum Teil umgesetzt sind. Allein das System der sozialen Markwirtschaft ist liberal, ja, man könnte sagen, neoliberal. Denn die so genannten neoliberalen Theoretiker in Deutschland wie Walter Eucken und Wilhelm Röpke lehnten das klassische Laisser- faire-Prinzip ab.

Vor dem Erfahrungshintergrund, von den Nazis verfolgt worden zu sein, entwickelten sie in den Dreißiger- und Vierzigerjahren die Theorien eines neuen Liberalismus. Sie forderten vom Staat eine wirtschaftskonforme Politik, die zum Beispiel gegen Monopole einschreitet. Schließlich behindern diese den freien Wettbewerb, der erst Wohlstand bringt und zu sozialer Gerechtigkeit führt. Dabei schrieben Eucken und Röpke dem Staat eine ordnende Funktion zu, um die Schwachen zu schützen.

Insbesondere Eucken wünschte einen geordneten Liberalismus, eine Theorie, die als Ordoliberalismus bezeichnet wird. Doch niemand würde seinen politischen Gegner als „ordoliberal“ abstempeln, wenn er die Staatsmonopole für die Post oder die Telekommunikation beschränken will – die zudem dank Regulierungsbehörde weit von liberaler Wirtschaftspolitik entfernt sind. Ordoliberal klingt kompliziert und hat nicht den scharfen Klang von „Sie sind neoliberal!“. Dabei schwingt in der Vorsilbe „neo“ nur Negatives mit. Es suggeriert, die neue Variante einer alten, abgelegten Idee zu sein, und verströmt keinesfalls den Geruch von Aufbruch in eine bessere, gerechtere Zukunft. Allenfalls wird den als neoliberal Abgestempelten unterstellt, das System zu stürzen, das angeblich Gerechtigkeit herstellt.

Doch die Ideen der liberalen Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman und Friedrich August von Hayek, die dem hierzulande verwendeten Begriff von neoliberal am nächsten kommen, will in Deutschland bislang niemand ernsthaft umsetzen. Sie lehnten den als Wohlfahrtsstaat diffamierten sorgenden Staat komplett ab und forderten die völlige Freiheit für wirtschaftliches Handeln.

Davon ist Deutschland weit entfernt. Doch anstatt sich von den sinnentleerten Worthülsen wie soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Privilegienabbau, Statusverlust und soziale Kälte zu verabschieden, wird den Kritikern der Hüllen das nichts sagende Etikett neoliberal aufgeklebt. Den seit je liberalismusskeptischen Konservativen und Linken ist dabei gemein, dass sie in der Debatte um eine anstehende Veränderung schnell die Datei „neoliberal“ öffnen, den politisch Andersdenkenden dort unterbringen und abspeichern. Bis das System abstürzt.

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