■ Wilde Phantasie: Hans Henny Jahnn, Autor
Es ist mehr als eine hübsche Anekdote, daß die Deutschlehrer Hans Henny Jahnns bei der Beurteilung von dessen Aufsätzen in die Bredouille gerieten. „... leider wieder mit den unvermeidlichen Fehlern – trotzdem 2“, so hat etwa ein Mitglied des Lehrkörpers des Hamburger Kaiser-Friedrich-Gymnasiums Anfang des Jahrhunderts unter einen Deutschaufsatz Jahnns geschrieben. Ein anderer: „Die Phantasie von H.J ist hier zu wild geworden. Wegen des ziemlich sicheren Ausdrucks noch gut.“
Viele Fehler, wildgewordene Phantasie, trotzdem gut: Das ist eine gar nicht mal so schlechte Art, die Bücher dieses ebenso faszinierenden wie befremdenden Schriftstellers zu charakterisieren, der auf einen Nenner nun wirklich nicht zu bringen ist. Nicht nur als Deutschlehrer, auch als Leser kann man seine Schwierigkeiten mit Jahnn haben. Und doch: Daß hier eine gewaltige Phantasie am Werk war, das spürt man auf beinahe jeder Seite.
Wer nun allerdings in der ungeschützten Zeit der Pubertät auf diesen Autor stößt, der ist zu bedauern (da halte man sich doch lieber an die Wohltemperierteren, etwa Hesse). „Wie wenn es aus dem Nebel gekommen wäre, so wurde das schöne Schiff plötzlich sichtbar“, so beginnt der erste Teil von Jahnns über 2000seitigem Hauptwerk Fluß ohne Ufer (Deutschlehrer aufgepaßt! „Wie wenn“– ist das noch ein sicherer Ausdruck?). Und was in der Folge geschieht, ist geeignet, beim Leser jede Neigung zu Selbstzweifel, Weltekel, Unsicherheit in der sexuellen Orientierung und Subjektdezentrierung aufs heftigste zu unterstützen.
Ganz ohne Pathos kommt man bei der Beschreibung dieses Romans einfach nicht aus. In vielen inneren Monologen, Gedankenspielen und Abschweifungen geht es da um einen Sexualmord, eine homoerotische Blutfreundschaft und um die Heiligung alles Irdischen. Jahnn schrieb das dreiteilige Buch in den dreißiger und vierziger Jahren im Exil in Bornholm, und es ist, als wolle er hier eine eigene, rauschhafte, unmittelbar sinnliche Welt beschwören – der Text selbst ist hier zu einem Fluß ohne Ufer geworden.
Es gibt wahrscheinlich auf der ganzen Welt höchstens ein Dutzend Menschen, die alles von Hans Henny Jahn gelesen haben. Zumal er nicht nur dieses Romanmonstrum geschrieben hat, sondern auch noch den nicht eben an einem verregneten Wochenende wegzukonsumierenden Roman Perrudja sowie eine ganze Reihe Theaterstücke wie Armut, Reichtum, Mensch und Tier (oder Der Arzt / Sein Weib / Sein Sohn), die allerdings höchstens noch kraftmeiernde Jungregisseure zu Inszenierungen zu reizen scheinen. Eins jedoch ist bei diesen vor Emotionen und Beschreibungswut triefenden Texten allemal garantiert: Bei kaum einem anderen Autor ist man so weit von den Selbstverständlichkeiten und Sicherheiten der heutigen Angestellten- und Mittelklassewelt entfernt wie bei diesem. Jahnn zu lesen ist ein Abenteuer, bei dem man, echt wahr, seine eigenen Grenzen gut austesten kann.
Daß Jahnn ein bedeutender Autor ist, läßt sich in vielen Literaturdarstellungen nachlesen. Meistens folgt dann der Hinweis, daß er nicht die Bekanntheit erreicht hat, die seiner Bedeutung angemessen wäre. Tatsächlich sind alle Versuche gescheitert, Jahnn als Klassiker der Moderne – etwa in einer Reihe mit Kafka, Musil, Joyce oder Broch – durchzusetzen. Auch die Ausstellungen, Artikel und Aufführungen, die anläßlich von Jahnns hundertstem Geburtstag 1994 stattfanden, haben letztlich wenig Wirkung gehabt. Jahnn ist und bleibt das, was man halb bewundernd, halb achselzuckend einen Unzeitgemäßen nennt – ein so eigenwilliger Einzelfall, daß er alle literaturhistorischen Schemata schlicht sprengt.
Wer sich einen ersten Eindruck über die Spannbreite dieser faszinierenden literarischen Figur verschaffen möchte, ist mit dem von Elsbeth Wolffheim verfaßten rororo-Bildmonographie-Bändchen über Hans Henny Jahnn ganz gut bedient. Wer aber eine Ahnung davon erhaschen will, was für eine schillernde Persönlichkeit Jahnn war, der lese Hubert Fichtes Versuch über die Pubertät. Jahnn taucht dort unter dem Namen Werner Maria Pozzi auf. . Dirk Knipphals
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